aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 26-27

aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
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insbesondere in denmythologischen Hintergrund
ein, doch dient mir das in erster Linie als Anregung
für etwas Eigenes. Außerdem hole ich mir meine
Anregungen auch nicht nur aus Fernost: Die ara-
bische Musik beispielsweise lebt aus unzähligen
Nuancen kleinster Abstufungen der Tonhöhe; das
verbindet sich inmeiner Klangvorstellung mit den
pythagoräischen Gesetzmäßigkeiten der reinen
Intervalle. Die makellose Schönheit reiner Terzen
fasziniert mich, und so komme ich auf die natür-
lichen Obertöne zurück, was ich niemals mit der
»wohltemperierten« Skala erreichen könnte!
aviso:
Es fällt auf, dass es in Ihrem Werkkatalog
viele Stücke für nichteuropäische Instrumente gibt.
Stahmer:
Genau! Wenn ich solche speziellen Ska-
len entwickle, denke ich in erster Linie an Instru-
mente wie z.B. Qanun und Santur [Anm. d. Red.:
Orientalische Zither bzw. Hackbrett]. Die können
das mit unglaublicher Subtilität umsetzen. Und
dann habe ich mich intensiv auch mit den Into-
nationsmöglichkeiten von Koto, Guzheng bzw.
Kayagum befasst. Das sind lange große Zithern aus
Japan, China und Korea, bei denen die Töne durch
Druck auf die Saiten »lebendig« gemacht werden.
Das ist nicht nur ein Vibrato, sondern das sind
all die Feinheiten in der Tongebung, die unserem
westlichen Tonideal abhanden gekommen sind, die
»Nebengeräusche«. Noch extremer ist das der Fall
bei der japanischen Shakuhachi…
aviso:
… dann müssen Sie aber die Spieltech-
niken genauestens kennen. Muss man nicht ein
Instrument selber spielen können, wenn man
dafür etwas komponiert?
Stahmer:
Ja und nein. Bis zum gewissen Grad ist
es hilfreich, aber jeder Komponist hat doch auch ein
Gespür für die Eigenheiten der Instrumente, und
ich interessiere mich nun mal so sehr für die chi-
nesische Mundorgel Sheng, dass ich wie ein Luchs
aufpasse, wie das geht. Und dann habe ich ja noch
den Spieler, der mich berät, meinen Freund Wu
Wei, der meine Klangvorstellungen zu realisieren
versucht, mir aber auch Stellen zeigt, an denen ich
etwas ändern muss. Ähnlich intensiv habe ich mit
dem libanesischen Qanun-Spieler Gilbert Yammine
zusammen gearbeitet. Und auch sonst: Ich schreibe
in letzter Zeit nur noch für ganz bestimmte Musi-
ker, deren Spielweise ich vorher studieren konnte.
aviso:
Aber sind Sie damit nicht aus der west­
lichenMusikszene ausgestiegen? Die hat doch ganz
bestimmte Aufführungsbedingungen für die neue
Musik entwickelt, wo solche »Ethno-Musik« eher
nicht hinpasst.
Stahmer:
Das ist richtig, aber zunächst mal: Ich schreibe
keine »Ethno-Musik«. Ich sehe mich als ein an der westlichen
Musik geschulter Komponist, der aus seiner eigenen Tradition
Dinge nimmt, die zu ihm passen, der allerdings auch vieles
davon in Frage stellt und sich bei seiner Musik von fremden
Klängen anregen und bereichern lässt.
aviso:
Das klingt mir jetzt aber ganz nach Neo-Kolonialis-
mus, ganz als würde jemand die deutsche Hausmannsküche
mit Curry und Kreuzkümmel zu verfeinern suchen.
Stahmer:
Nein, das Ganze ist eher eine Gratwanderung. Vor
allem geht es um die Gleichwertigkeit der prinzipiell verschie-
denen Kulturen. Ich fühle mich inmeinemmusikalischen Den-
ken so stark vom Nicht-Europäischen geprägt, dass es mehr
als nur ein paar raffinierte Gewürze sind, mit denen ich eine
ansonsten eurozentrische Musik »aufpeppe«. Ich habe mich,
was die musikalischen Formen, die Satzstrukturen und vor
allem auch die Inhalte meiner Stücke betrifft, ziemlich weit
vommotivisch-thematischen Denken und von der Ausdrucks­
ästhetik unserer traditionellen westlichen Musik wegbewegt.
Ich schreibe keine Sinfonien und Sonaten, schaffe dafür aber
Klangbilder, für die ich dann zuweilen die Inspiration aus
der Literatur beziehe, zum Beispiel, indem ich Gedichte von
Sandile Dikeni oder von Fuad Rifka »vertone«. Darin finde
ich emotional und gestalterisch so ziemlich alles, was ich
brauche. Ich will mich jetzt nicht mit Gauguin oder Picasso
messen, doch haben die sich nicht auch von fremdländischen
Kulturen inspirieren lassen, und zwar so sehr, dass es sie an
ihrer Basis verändert hat?
aviso:
Sehen Sie sich als musikalischer Globetrotter?
Stahmer:
Wenn Sie so wollen, ja. Mich hat zunächst mal alles
interessiert. Doch dann wurde ich zunehmend hellhörig,
und worüber ich mich dann ammeisten ärgerte, das war die
sogenannte »world music« mit ihrem unkritischen Verhält-
nis zum Originalen. Und erst die Wellness-Musik: Das ist
Neo-Kolonialismus pur! Ich habe mich, ganz im Gegensatz
zu dieser Vermarktungsstrategie, um die Musiker im jeweili-
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gen Land gekümmert, zum Beispiel, indem ich an
Unis und Hochschulen in Kompositionsklassen
gearbeitet habe.
aviso:
Welche Erfahrungen haben Sie in der Arbeit
mit Studierenden aus anderen Kulturen gemacht?
S
tahmer
: Bei der Arbeit mit Studierenden aus
Entwicklungsländern ging es mir hauptsächlich
darum, bei diesen Menschen ein Selbstwertgefühl
zu entwickeln. In Afrika gilt zumBeispiel alles, was
aus den USA oder Europa kommt, automatisch
als besser und wertvoller, und ich habe hart daran
arbeitenmüssen, bis die jungenMusikerinnen und
Musiker ihre eigenen Traditionen kennen und schät-
zen gelernt haben. Es gab Studierende aus Fernost,
die bei mir imUnterricht inWürzburg zum ersten
Mal etwas von der Musik ihres Heimatlandes
gehört haben und die mir nach der Prüfung sag-
ten, wie toll sie das gefunden haben, ihrer eigenen
Kultur nähergekommen zu sein.
aviso:
Können Sie uns noch mehr darüber er-
zählen, wie Sie den interkulturellen Austauschmit
Musikerinnen undMusikern aus aller Welt in Ihrer
konkreten Arbeit erleben?
Stahmer:
Ich habe mich schon immer für Kom-
ponisten interessiert, die ähnlich wie ich an der
Entwicklung einer interkulturellen Stilistik und
Thematik arbeiten. Unzählige von ihnen habe nach
Deutschland eingeladen und dann ihre Musik in
Konzerten und Festivals zur Aufführung gelan-
gen lassen. Ich habe mich mit ihnen ausgetauscht
und gesehen, dass wir etwas gemeinsam haben:
Wir verlassen unser Herkunftsland und gehen
über eine Brücke zum anderen Ufer, ich von der
europäischen Seite aus, die anderen auf Europa
zu. Von dem Nigerianer Akin Euba beispielsweise
habe ich vieles gelernt, doch hauptsächlich hat er
linke Seite
In der Komposition »Jing Zhan« wurden zwei Modi aus einer
durch Isomorpheme gebildeten Skala gewonnen. Anschließend
wurden für die Großform aus diesen beiden Modi 5- bzw. 6-Klänge
abgeleitet.
daneben
Klaus Hinrich Stahmer im Gespräch mit dem chinesischen
Qin-Meister Yun Ping.
daneben
In Zusammenarbeit mit der chinesischen Guzheng-Virtuosin
Xu Fengxia entstand die Komposition »Silence is the only music«.
1...,6-7,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17,18-19,20-21,22-23,24-25 28-29,30-31,32-33,34-35,36-37,38-39,40-41,42-43,44-45,46-47,...52
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