Fortsetzung von Seite 3
Eine ganze Reihe von Gründen
steht ihm hierzu lande entgegen .
Welche sind das?
Viele Zuschriften gehen von
einer grundsätzlich kinderfeindli–
chen Mentalität der Deutschen
aus. "in der italienischen Familie
ist das Kind nach der Mama die ab–
solute Nummer 2, und dann kom–
men erst die anderen Familienmit–
gl ieder. Bei uns stehen die Kinder
an letzter Stelle nach Freizeit,
Hobby, Urlaub und Auto", be–
hauptet der Elternbeiratsvorsitzen–
de einer Grundschule.
Sind deutsche Kinder
nur mehrein
Belastungsfaktor?
Ihm pfl ichtet der Verkehrserzie–
her einer Polizeiinspektion bei:
" Die meisten Eitern wälzen die
Hauptlast der Verkehrserziehung
auf Kindergarten, Schule und Pol i–
zei ab. Solange dies der Fall ist,
kann bei uns das Ital ienische Mo–
dell nicht übernommen werden ."
Ähnlich denkt ein Vater aus Un–
terfranken: " Das Modell wird
schon daran scheitern, daß ein
Großteil der als Begleiter der Kin–
der in Frage kommenden Personen
aus Erwerbsgründen gar nicht zur
Verfügung steht; denn in der am
praktischen Materialismus orien–
tierten Wertordnung unserer Ge–
sellschaft spielt das Kind zuneh–
mend die Rolle eines Belastungs–
faktors."
Eine Münchner Mutter schreibt:
" Das Beispiel Italien wäre gut
übertragbar, gäbe es hierzulande
die Familie im ital ienischen Sinn,
d . h. die Familie mit Verantwor–
tungsbewußtsein und Zusammen–
gehörigkeitsgefüh
I.
Aber gerade
dies gibt es bei uns in weiten Krei–
sen nicht mehr. Darauf wurde vie–
le Jahre öffentlich hingearbeitet.
Bei uns sieht man die Selbstver–
wirklichung der Frau beinahe aus–
schließl ich in der Berufstätigkeit
Kinder und Küche allein gelten als
veraltet. Auf der Strecke bleibt das
Kind. "
Viele Leser sehen das Italienische
Modell auch durch die deutsche
Arbeitswut blockiert. Ein Brief aus
Würzburg: . " Unserer Gesellschaft
feh lt es an Menschen, die ihre
Hände frei haben für andere.
Wenn sogar die Großmutter noch
voll arbeitet, Mutter und Vater
4
überlastet sind, wer
soll da
das Kind in die Schule bringen?"
Andere Leser verweisen auf den
frühen Arbeitsbeginn vieler Betrie–
be. Wenn die Eitern lange vor
Schulbeginn aus dem Haus müs–
sen, sei eben kein Begleitschutz für
Kinder mehr möglich. Aber wird
hier nicht übersehen, daß auch die
Mehrheit der Italiener in einem In–
dustriestaat lebt, beide Elternteile
oft berufstätig sind und früh aus
dem Haus müssen?
Entscheidend ist: Der Italiener
findet oder nimmt sich eben trotz–
dem Zeit, die Kinder in die Schule
zu begleiten und sie am Mittag dort
wieder abzuholen . Wenn die Ei–
tern verhindert sind, springen Ver–
wandte oder die Nachbarschaft
ein. Warum das alles hierzulande
so schwierig ist, ja von vielen für
unmöglich gehalten w ird, das
hängt offenbar auch mit einem (ty–
pisch?) deutschen Erziehungsideal
zusammen. Dazu die Rektorin
einer Münchner Grundschule :
" ln den pädagogischen Strömun–
gen seit 1970 wurde in erster Linie
die Erziehung zur Selbständigkeit
forciert. Doch 6- bis 8jährige Kin–
der werden nicht dadurch selb–
ständig, daß man sie allein auf die
Straße schickt. Vielmehr brauchen
gerade sie den Schutz der Erwach–
senen, die Begleitung eines Men–
schen, der weiß, wo es langgeht
Nur aus Geborgenheit entsteht
Selbststcherheit, aus gewährtem
Beistand die Selbständigkeit. Pe–
stalozzi hat Erziehung als ,Hand–
reichung' definiert. Dies sollten
wir in der Erziehung überhaupt,
vor allem aber im Straßenverkehr
wortwörtl ich nehmen."
Die Handreichung
im Straßenverkehr
wortwörtlich nehmen
Leider sieht die Realität anders aus.
Täglich bevölkern gerade während
der Stoßzeiten die kleinen Allein–
gänger unsere Schulwege, werden
verkehrsreiche
Straßen
zum
Trimmpfad für die Selbständigkeit
erklärt. Besonders schlimm: Er–
wachsene, die ihre Kinder beglei–
ten möchten, werden belächelt
und kritisiert, ihr Nachwuchs als
"Mamakinder" verhöhnt.
Viele Zuschriften beweisen :
Hierzulande brauchen Eitern gera–
dezu Mut und eine Portion Selbst–
überwindung, wenn sie Kindern
Begleitschutz im Straßenverkehr
geben wollen. "Schon bald nach
Schu lbeginn mußte mein Sohn hö–
ren : Baby, Du wirst ja noch abge–
holt! Fortan wollte mein Kind auch
alleine gehen ", schreibt Frau · V.
aus Bobingen .
Ähnlich die Erfahrungen einer
Mutter aus Assling: "Es ist ja nicht
so, daß wir Deutsche keine Lust
oder Zeit hätten, unsere Kinder in
die Schule zu bringen . Im Gegen–
teil. Man wird direkt gezwungen,
das Kind alleine zur Schule zu
schicken, will man es nicht der
Hänselei aussetzen ."
Der Meinungsdruck, der von un–
serem Selbständ igkeitsideal aus–
geht, ist so stark, daß viele gutwilli–
ge Eitern vor ihm kapitulieren. Oft
gegen das eigene Gewissen . Aus
diesem Grund fordert die Vorsit–
zende des Elternbeirats einer
Münchner Grundschule: "Ihre
Zeitschrift sollte den Erziehungsbe–
rechtigten mehr Mut machen, ge–
gen den bisher üblichen Strom zu
schwimmen ."
Dem Meinungsdruck
standhalten
Aber.die Appelle an Mut und päd–
agogische Standfestigkeit sind
nicht das letzte Wort zum Thema.
Eine Mutter aus Schwaben, die
durch ein furchtbares Schicksal
ging, erlebte nach allem Leid auch
ein kleines Schulweg-Glück. Dar–
um soll sie das Schlußwort haben:
" Ich begleitete mein zweitälte–
stes Kind über ein halbes Jahr und
meine beiden jüngsten Kinder ein
ganzes Jahr zur Schule und holte
sie nach dem Unterricht w ieder
ab. Sicher wäre auch ich nicht so
lange mitgegangen, wenn ich nicht
meine älteste Tochter durch einen
Schulwegunfall verloren hätte.
Wieviel · Leid und Verzweiflung
der Tod meiner Tochter für meine
Familie brachte, kann ich nicht be–
schreiben. Deshalb begleitete ich
die jüngeren Geschwister unserer
toten Ursula auf dem Schulweg.
Ich muß sagen, das war eine schö–
ne Zeit für mich und die Kinder.
Da erzählten sie von ihren kleinen
Sorgen und Problemen, aber auch
von den vielen lustigen Erlebnis–
sen. Sie mußten zwar öfter von
.Mitschülern ,Mamakindle' hören
und ihnen tat das auch weh, aber
ihre Sicherheit war mir
trot~dem
wichtiger. Hätte ich meine LJrsula
auch zur Schule begleitet, würde
sie heute noch leben ."
e