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Geschichten

(1977) schnell radikalisie-

ren, die Formen lockern sich, die Ein-

fälle werden extremer, ich erinnere nur

an die titelgebende Science Fiction-Ge-

schichte

Lernprozesse mit tödlichem

Ausgang

, eine 120-Seiten-Montage mit

vier »Experten«, die aus demKessel von

Stalingrad entkommen, noch den drit-

ten Weltkrieg überleben und von einem

kleinen Jupitermond aus schreiben, im

Jahr 2103.

Der dokumentarische Roman

Schlacht-

beschreibung

(1964) war zuvor der Ver-

such, ins dokumentarische Extrem zu

gehen, Stalingrad in einer gewaltigen

Recherche- und Dokumentationsar-

beit zu ›verstehen‹: Wie ist diese Armee

überhaupt dorthin gekommen? Das ›Er-

gebnis‹ ist gerade, dass Stalingrad nicht

verstanden werden kann. So dokumen-

tarisch die Einzelheiten sind, das »Buch

wird dadurch nicht dokumentarischer«;

lapidar heißt es in der Nachbemerkung:

»Wer in Stalingrad etwas sah, Aktenver-

merke schrieb, Nachrichten durchgab,

Quellen schuf, stützte sich auf das, was

zwei Augen sehen können. Ein Unglück,

das eine Maschinerie von 300000 Men-

schen betrifft, ist nicht so zu erfassen,«

die Montage der Quellen liefert allen-

falls ein »Gitter, an das sich die Phan-

tasie des Lesers anklammern kann« –

wie in jedem fiktionalen Roman auch.

Die Erinnerungslosigkeit ist durch das

Buch vielleicht etwas gebrochen, die

Trauer ist zurückgeholt worden in den

öffentlichen Diskurs.

Strengere dokumentarische Verfahren

sind damit beendet; Kluge wendet sie

zwar weiterhin an, sie werden aber nie

ganz durchgehalten, es gibt gefälschte

oder falsch zugeordnete Dokumente, es

gibt Fakes, die Sie alle aus den Fernseh-

sendungen kennen, es gibt sie auch in

den literarischen Texten. – Dieses frühe

Werk hat Kluge zusammengefasst in

der

Chronik der Gefühle

(2000), die

etwa zur Hälfte bereits neue Arbeiten

bringt. Seither baut er systematisch an

einer Werkstruktur, die ich

Wundertüte

nennen möchte – in der Forschung wird

vornehmer vom »Kaleidoskop« gespro-

chen, zu dem mir eher die ›kaleidosko-