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aviso 3 | 2016

ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN

COLLOQUIUM

Professor Dr. Helmuth Trischler

leitet den Forschungsbereich des

Deutschen Museums, ist Historiker an der LMU München und, gemeinsam

mit Professor Dr. Christof Mauch, Direktor des Rachel Carson Center for

Environment and Society.

Konzept einzumischen, bedeutet nicht weniger

als die Herausforderung, etablierte Narrative und

Zeitlichkeiten kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

Nichts verdeutlicht die wechselseitige Durchdrin-

gung von Natur und Kultur besser als der Klima-

wandel. Dipesh Chakrabarty, Vordenker der Post-

kolonialen Studien, fordert als Konsequenz des

menschengemachten Klimawandels nicht weniger

als einen »Klimawandel« auch in den Geschichts-

wissenschaften. Da sich imAnthropozän kulturelle,

wirtschaftliche, soziale und politische Ordnungen

gemeinsammit natürlichen Ordnungen entwickeln,

bedarf es eines konsequenten Perspektivenwandels,

der zu neuen Narrativen führt.

Nicht nur Chakrabarty, sondern auch zahlreiche

weitere Historiker haben diese Herausforderung

bereits angenommen und Geschichte imLichte der

Anthropozänthese neu erzählt. Basierend auf sei-

ner Mitarbeit in der Anthropozän-Arbeitsgruppe

konzipiert etwa der Umwelthistoriker John R.

McNeill seine Globalgeschichte seit dem Zweiten

Weltkrieg als Narrativ des Anthropozäns im Zei-

chen der Großen Beschleunigung. Der Globalhis­

toriker Paul Dukes wiederum wählt eine andere

Zeitlichkeit. Seine Geschichte der letzten 250 Jahre

umfasst die Ära des Anthropozäns, die er mit dem

Ende des Siebenjährigen Kriegs (1763) und der

durch dieWeiterentwicklung der Dampfmaschine

durch James Watt (1764) beförderten Industriellen

Revolution beginnen lässt. Im Anthropozän hat

sich der Mensch dank seiner technischen Kreati-

vität in die Erde eingeschrieben.

Das Anthropozänkonzept ermöglicht es, geolo-

gische Zeit und historische Zeit zu neuen Narra-

tiven zu verknüpfen, die auf neuen Zeitlichkeiten

basieren. Erdgeschichte und Menschengeschich-

te verlaufen nicht mehr unabhängig voneinander,

sondern verbinden sich zu einer integrierten Geo-

Geschichte. Die Menschheit gestaltet die Erde und

wird ihrerseits durch geologische Signaturen ge-

prägt, an die wiederumder MenschHand angelegt

hat. Diese Wechselwirkung und das damit einher-

gehende Verwischen der Grenzen zwischen Natur

und Kultur werden zum Signum des Anthropo-

zäns, das unterschiedliche Zeitskalen miteinan-

der verschränkt. Es verbindet die lange, bis in die

Neolithische Revolution zurückreichende Perio-

de der menschlichen Eingriffe in die Erde mit der

Gegenwart des »langen Jetzt« und der daraus er-

wachsenden Verantwortung für die Zukunft. Das

von demUtopisten Steward Brand und seiner Long

Now Foundation ins Leben gerufene Projekt des

Baus einer Uhr, die unabhängig vonmenschlichen

Eingriffen über 10000 und mehr Jahre hinweg

laufen können soll (siehe Abbildung Seite 11) verweist auf die geradezu

dialektische Konstellation, dass die Menschheit Verantwortung für die

in eine schier endlos ferne Zukunft hineinreichenden Folgen ihres Han-

delns zu übernehmen hat, ohne zu wissen, wie sie dieser Verantwortung

gerecht werden kann. Deutlich wird diese Dialektik etwa im deutschen

Standortauswahlgesetz für ein Endlager für radioaktiven Abfall, das

vorschreibt, für eine Million Jahre Sicherheit für Atommüll zu schaffen,

wie der Jurist Jens Kersten in seinem Beitrag in diesem Heft ausführt.

Es wird wohl noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis das

Anthropozänkonzept sein Potential voll entfaltet haben wird, nicht nur

in den Naturwissenschaften, sondern auch in den Sozial- und Geistes-

wissenschaften neue Forschungsfragen zu stimulieren und neue Narra-

tive zu entwickeln. Schon heute aber ist es ein Feld für bemerkenswerte

Kooperationen über das weite akademische Spektrumhinweg geworden.

Geowissenschaftler diskutierenmit Historikern, Erdsystemforscher mit

Anthropologen und Theologen. Damit ist bereits viel gewonnen. Denn

kaum etwas braucht unsere Gesellschaft dringender als den tradierte

Grenzen überschreitenden Dialog über die Verantwortung des Menschen

für die Erde in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.