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Władysław Bartoszewski, der Brückenbauer

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

ein Schwein sein und die Welt wird wohl besser aussehen,

wenn es auf ihr ein Schwein gibt und nicht zwei.‘ Jener

zuckte nur mit den Schultern und sagte: ‚Mit dir kann

man nicht reden.‘“ 

13

Uns eint vergossenes Blut

Angesichts des wachsenden Terrors der ersten Kriegsmo-

nate, dem alle im besetzten Polen ausgesetzt waren, ließen

sich die wahren Absichten der Nationalsozialisten gegen-

über den Juden nicht sogleich in ihrem vollem Ausmaß

erkennen. Die Lage spitzte sich zu, als im Laufe der Jahre

1940–1941 in zahlreichen Städten sogenannte „geschlos-

sene jüdische Wohnbezirke“, also Ghettos geschaffen wur-

den, in denen katastrophale Lebensbedingungen herrsch-

ten. In der Verordnung des Generalgouverneurs Hans

Frank vom 15. Oktober 1941 heißt es in § 4b: „Juden,

die den ihnen zugewiesenen Wohnbezirk unbefugt verlas-

sen, werden mit demTode bestraft. Die gleiche Strafe trifft

Personen, die solchen Juden wissentlich Unterschlupf

gewähren.“ 

14

Eine Vorschrift, die übrigens nur im besetz-

ten Polen galt, und auch rigoros durchgeführt wurde.

Das nach dem Aufstand von den Deutschen völlig zerstörte Warschauer

Ghetto, 1943

Foto: ap/dpa/picture alliance/Süddeutsche Zeitung photo

13 Adam Kardinal Kozłowiecki: Ucisk i strapienie (Unterdrückung und Gram),

Krakau 32008, S. 544 f. Kardinal Kozłowiecki verbrachte über fünf Jahre

in Haft, zunächst im Gefängnis, dann in Auschwitz und schließlich in Da-

chau. Nach dem Krieg setzte er sich für eine Aussöhnung mit Deutschland

ein und nahm 1960 an der Einweihung der Todesangst-Christi-Kapelle auf

dem Gelände des ehemaligen KL Dachau teil.

14 Zit. nach Władysław Bartoszewski: Aus der Geschichte lernen?, München

1986, S. 220.

Im Sommer 1942 begannen die Besatzungsbehörden die

berüchtigten Beschlüsse der Wannsee-Konferenz vom

20. Januar 1942 über die „Endlösung der Judenfrage“

planmäßig in die Tat umzusetzen und die Bewohner der

Ghettos zwangsweise in die Vernichtungslager zu evakuie-

ren. Diese dramatischen Ereignisse konnten auf der „ari-

schen“, der polnischen Seite der Ghettomauer nicht unbe-

achtet bleiben. Die katholische Widerstandsorganisation

„Front der Wiedergeburt Polens“ gab Anfang August

1942 in Warschau ein Flugblatt mit dem Titel „Protest“

heraus. Darin heißt es: „Die Welt schaut auf dieses Verbre-

chen, das schrecklicher ist, als alles, was die Geschichte bis-

her kannte, und schweigt. […] Die dahingemordeten Juden

sind umgeben von Menschen, die allesamt wie Pilatus ihre

Hände in Unschuld waschen. Dieses Schweigen kann nicht

länger geduldet werden. Auf welche Beweggründe auch

immer es sich berufen mag – es ist niederträchtig. Angesichts

eines Verbrechens darf man nicht gleichgültig bleiben. Wer

angesichts eines Morde schweigt, wird zumHelfershelfer der

Mörder. Wer nicht verurteilt, der lässt geschehen.“ 

15

Mit

diesem Flugblatt, das Bartoszewski tief bewegte, begann

das „jüdische Kapitel“ in seinem Leben und die enge

Zusammenarbeit mit Zofia Kossak, die dieses Flugblatt –

natürlich unter Pseudonym – verfasst hatte. 

16

Bei der Fülle der Probleme reichte individuelle Hilfe

nicht mehr aus, zumal im besetzten Polen allgemein Man-

gel herrschte und auf die Hilfe für Juden die Todesstrafe

stand. Zofia Kossak und ihre Mitstreiter sahen die Not-

wendigkeit einer Koordinierung der Hilfsmaßnahmen

und einer Unterstützung durch die polnische Exilregie-

rung in London, um dem Vorhaben organisatorische und

beständige Formen zu verleihen. 1942 glaubte niemand

mehr an ein baldiges Ende des Krieges und so war es klar,

dass es sich um eine längerfristige Aktion handeln musste,

die das ganze Gebiet des Generalgouvernements umfassen

sollte. Am 27. September 1942 kam es zur Gründung des

Hilfsrats für Juden unter dem Kryptonym

„Żegota“.

Über

die sich auftürmenden Probleme, vor denen der Hilfsrat

stand, sagt Bartoszewski: „Ich war an dieser Hilfe beteiligt,

und daher weiß ich, von welchen Überlegungen wir uns

in der Alltagsarbeit leiten ließen. Wir versammeln uns in

einem Zimmer und diskutieren, was in konkreten Fällen

zu tun ist. Und wir haben kein Rezept, denn bisher hat

keiner je im Leben so etwas gemacht. Es gibt keine Lehr-

bücher und keine Fachleute für das Verbergen von Men-

15 Zit. nach ebd., S. 223f.

16 Bartoszewski (wie Anm. 1), S. 71.