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Władysław Bartoszewski, der Brückenbauer

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

In seinen autobiografischen Betrachtungen gab Władysław Bartoszewski dem

Kapitel, in dem er seine Inhaftierung nach Ausrufung des Kriegsrechts am

13. Dezember 1981 und die Festsetzung zusammen mit zahlreichen anderen

Oppositionellen im Internierungslager Jaworze bei Drawsko beschreibt, den Titel

„Es lohnt sich anständig zu sein“. 

1

Mit einem spitzbübischen Lächeln fügte er

dem häufig noch hinzu: „Es lohnt sich, ehrlich zu sein, obwohl es sich nicht

immer auszahlt. Es zahlt sich aus unehrlich zu sein, aber es lohnt sich nicht.“

Dies ist gewissermaßen die Quintessenz eines langen, erfahrungsreichen Lebens.

Jugendzeit

Władysław Bartoszewski wurde am 19. Februar 1922

in Warschau geboren. Er wuchs in einer recht typischen

Warschauer Mittelschichtsfamilie auf – sein

Vater war

Bankangestellter, seine Mutter besuchte nach dem Abitur

die Handelsschule und arbeitete später als Buchhalterin.

Bartoszewski legte seine Abiturprüfung im Mai 1939

an einer katholischen Privatschule ab. Die ihn damals

prägenden Erfahrungen und seine Zukunftsvorstel-

lungen fasste er 1987 in seiner Vorlesung anlässlich des

Geschwister-Scholl-Gedenktages an der Ludwig-Maximi-

lians-Universität München in folgende Worte: „Ich gehöre

der Generation an, deren Jugend in die Zeit des

Zwei-

ten Weltkrieges fiel, also derselben Generation, der auch

Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph

Probst, Willi Graf und die meisten anderen jungen Leute

angehörten, die mit der Studentengruppe der „Weißen

Rose“ verbunden waren. Meine Lehrer aber, die damals

mein Denken und meine Weltsicht mitzugestalten ver-

suchten und die sicherlich meine spätere Handlungsweise

beeinflussten, gehörten zu der Generation von Profes-

sor Kurt Huber. Ich interessierte mich für Literatur und

Geschichte. Meine Kollegen und ich lasen wahrscheinlich

die gleichen Standardwerke der europäischen Literatur, die

die Geschwister Scholl, Alexander Schmorell, Christoph

Probst und Willi Graf tief beeindruckt studierten. Wir

glaubten an die Zukunft Europas und zweifelten nicht

an der Richtigkeit christlicher Ideale. Wir lebten in der

schlichten Überzeugung, dass wir durch unser Studium,

durch Selbstbildung, Fleiß und Ehrgeiz bei der Gestaltung

einer besseren Zukunft für unser Volk und unseren Staat

1 Władysław Bartoszewski: Herbst der Hoffnungen. Es lohnt sich anständig

zu sein, hg. v. Reinhold Lehmann, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1983,

S. 9–17.

Polen würden mitwirken können, wobei wir aber Europa

nicht aus dem Blick verlieren wollten. Wir sahen darin

nämlich keinen Widerspruch.“ 

2

Der 1. September 1939 veränderte alles. Es herrschte

Krieg. Alle Zukunftspläne waren hinfällig. Für den mili-

tärischen Dienst war Bartoszewski noch zu jung und auf-

grund seiner starken Kurzsichtigkeit auch nicht wirklich

geeignet. Er wollte sich jedoch nützlich machen und betä-

tigte sich als Sanitätshelfer bei der zivilen Verteidigung

Warschaus. Später fand er eine Anstellung beim Roten

Kreuz. Bei einer SS-Razzia, die sich gegen polnische Intel-

lektuelle in Warschau richtete, wurde Bartoszewski am

19. September 1940 verhaftet und am 22. September in

einer Gruppe von 1705 Gefangenen in das Konzentrati-

onslager Auschwitz verbracht. Es handelte sich um den

sogenannten „Zweiten Warschauer Transport“. Die Häft-

linge erhielten die Nummern 3.821 bis 4.959 und 4.961

bis 5.526. Auf Bartoszewski fiel die Nummer 4.427. 

3

Beim Morgenappell wandte sich Lagerführer Karl Fritzsch

an „den Zugang“, wie die neu eingelieferten Häftlinge im

Lagerjargon hießen. Er sagte: „Schaut dort, der Kamin.

Schaut, das ist das Krematorium. Ihr geht alle ins Krema-

torium. 3.000 Grad heiß. Der Kamin ist der einzige Weg

ins Freie.“ 

4

Diese Szene verfolgte Bartoszewski jahrelang

und erschreckte ihn so, dass er – nach eigener Aussage –

selbst im Traum noch bleich geworden sei.

2 Władysław Bartoszewski: Kein Frieden ohne Freiheit. Betrachtungen ei-

nes Zeitzeugen am Ende des Jahrhunderts, hg. v. Nina Kozlowski, Baden-

Baden 2000, S. 137.

3 Władysław Bartoszewski: Mein Auschwitz, übers. v. Sandra Ewers u. Ag-

nieszka Grzybkowska, Paderborn 2015, S. 11–27.

4 Ebd., S. 28.