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Syrien stirbt

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

hatten wie andere nicht-muslimische Religionsgemein-

schaften hohe zusätzliche Steuern zu entrichten. Die meis-

ten Alawiten betrachten sich nichtsdestotrotz als Muslime,

im religiös-theoretischen Spektrum sind sie dabei eher den

Schiiten als den Sunniten zuzurechnen, auch wenn die

genauen alawitischen Glaubensinhalte Gegenstand hefti-

ger Kontroversen sind. 

21

Insbesondere viele Sunniten in

Syrien stehen den Alawiten, vorsichtig formuliert, skep-

tisch gegenüber.

Heute gelten die Alawiten als die Gruppe in Syrien,

die nach wie vor loyal hinter „ihrem“ Präsidenten Bas-

har al-Assad steht. In der Tat besteht die syrische Regie-

rungsarmee nach unzähligen Desertionen mittlerweile

fast ausschließlich aus Alawiten. Die meisten Offiziere des

Militärs wie auch der größte Teil der politischen Elite rek-

rutieren sich traditionell aus dieser Gruppe, was jedoch

mehr in politisch-historischen als religiösen Ursachen

gründet: Familie Assad schuf sich mit der Privilegierung

einer Minderheit treue Untertanen, die einen Sturz des

21 Das liegt nicht zuletzt an einer „Geheimhaltungsdoktrin“: Wer die religi-

ösen Grundsätze nach außen verrät, solle nicht einmal würdig sein, „dass

die Erde seinen Leichnam in sich trägt“, so heißt es in einer alawitischen

Liturgie. Diese Verschwiegenheit habe jedoch auch dazu geführt, dass

die Alawiten selbst wenig über ihren Glauben und dessen Traditionen

wüssten, so der unter Pseudonym schreibende Alawit Habib Abu Zarr

(wie Anm. 21), S. 20. Von der „Zwölfer-Schia“ – die Zahl steht für den

Glauben an die Existenz von zwölf Märtyrern, die als „Imame“ bezeichnet

werden – die insbesondere in Iran dominiert, werden Alawiten als

ghulat

bezeichnet: diejenigen, die in ihrer Vergöttlichung Alis alle Grenzen über-

schreiten. Die alawitische Glaubensrichtung ist Mitte des 9. Jahrhunderts

im Irak entstanden, als Muhammad ibn Nusair an-Namiri (daher auch der

für die Alawiten synonym verwendete Begriff

Nusairiyya

) die göttliche

Natur des zehnten schiitischen Imams Ali al-Hadi verkündete und sich

selbst zum Propheten ernannte. Daraus entstand eine mythische Lehre

von der Entstehung der Welt, in der dem ersten schiitischen Imam, Ali ibn

Abi Talib, Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammad, göttli-

cher Charakter zugeschrieben wird. Die Alawiten werden daher oftmals

als schiitische Sekte interpretiert; vgl. Anja Pistor-Hatam: „Alawiten“, in:

Elger/Stolleis (wie Anm. 11), S. 31. Nichtsdestotrotz erkannte im Juli 1973

der Imam Musa as-Sadr als Vorsitzender des obersten schiitischen Rates

in Libanon als erste schiitische Autorität die Alawiten als Muslime an.

Dieser Schritt entsprang allerdings eher politisch-taktischem Kalkül als

einer wohlüberlegten theologischen Betrachtung: Während as-Sadr sei-

nen Einflussbereich nach Syrien ausdehnen wollte, benötigte der damali-

ge syrische Präsident Hafiz al-Assad dringend geistliche Rückendeckung,

da syrische Sunniten ein Verfassungsreferendum gefordert hatten. Darin

sollte festgehalten werden, dass der syrische Präsident zwingend musli-

mischen Glaubens sein müsse. Das Dekret Nr. 123 des syrischen Staates,

das die Alawiten bereits im Juli 1949 offiziell als „Schiiten der dschaafa-

ritischen Rechtsschule“ und damit als Muslime anerkannt hatte, war in

der Öffentlichkeit kaum bekannt; vgl. Abu Zarr (wie Anm. 20), S. 21. Im

Gegensatz dazu erkennt die in der sunnitischen Theologie tonangeben-

de Kairoer

Al-Azhar-Universität

die Alawiten bis heute nicht als Teil des

Islam an, sondern folgt im Gegenteil nach wie vor der Rechtsmeinung

des Gelehrten Ibn Abidin aus dem 18. Jahrhundert, nach der jeder, der

Alawiten, Ismailiten und Drusen zu den Muslimen zählt, selbst ein vom

Glauben Abgefallener sei; vgl. Naseef Naeem: Zum Abschuss freigegeben,

in: zenith. Zeitschrift für den Orient 4 (2013), S. 27.

Regimes unmöglich machen sollten. Oder, in den Wor-

ten eines syrischen Alawiten: „Um Syrien zu beherrschen,

brauchte Assad die Alawiten, aber nur solange sie ‚seine

Alawiten‘ waren. Er konnte sie benutzen, aber nur dann,

wenn ihr Dasein allein von ihm abhing: Assad erfand sich

als Heiland einer verhassten Minderheit, als ihr Identitäts-

stifter, Ernährer und

‚raison d’être‘

.“ 

22

Viele Alawiten binden

heute ihre Identität oder zumindest ihr Schicksal an die

Assad-Herrschaft: „Wer heute in die Alawitenberge an der

syrischen Küste fährt, mag sich auf den ersten Blick wun-

dern: Die Dorfbewohner stehen im Krieg zwar auf Seiten

des Regimes, für Bashar al-Assad hegen sie aber wenig Sym-

pathie.“ 

23

Doch wie erlangte die Familie Assad in Syrien

eine derartige Machtposition?

Bashar al-Assad

Foto: ullstein Bild/Fotograf: Ulrich Baumgarten

Aufstieg der „Löwen“

Während des Zweiten Weltkriegs war Syrien von den Alli-

ierten besetzt. Das französische Völkerbundmandat über

Syrien wurde bis April 1946 aufrechterhalten, das Land

danach in die Unabhängigkeit entlassen. Die junge syri-

sche Republik beteiligte sich ohne formale Kriegserklärung

am erfolglosen Angriff der arabischen Staaten auf den ver-

hassten neuen Nachbarn Israel, der 1948 offiziell gegrün-

det wurde. In die israelischen Geschichtsbücher ging dieser

22 Abu Zarr (wie Anm. 20), S. 21.

23 Ebd., S. 23.