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Syrien stirbt

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

470.000 Menschen ums Leben gekommen – fast doppelt

so viele wie bisher von den

Vereinten Nationen

angenom-

men. 11,5 Prozent der Syrerinnen und Syrer wurden der

Studie nach seit 2011 getötet oder verletzt, fast die Hälfte

der gesamten Bevölkerung floh aus ihren Heimatorten. 

6

Um die Menschen zu porträtieren, führt der Weg daher

zuallererst in die Flüchtlingslager der Türkei, des Libanon

und Jordaniens, wo Millionen Zuflucht gefunden haben,

aber auch in die Erstaufnahmeeinrichtungen, in die

Turn- und Traglufthallen der Bundesrepublik Deutsch-

land. Oder auch in eine WG in München: Dort wohnt

Adnan A. 

7

Der 22-jährige Syrer kam im September 2014

nach Deutschland, hat das Asylverfahren hinter sich und

6 Syrian Center for Policy Research: Syria. Confronting Fragmentation! Im-

pact of Syria Crisis Report 2015, S. 8, 9 u. 62; online:

http://www.ara.cat/

internacional/SCPR-report-Confronting-fragmentation-2015-EN_ARA-

FIL20160211_0002.pdf [Stand: 12.02.2016].

7 Viele syrische Flüchtlinge in Deutschland fürchten um das Leben ihrer Fa-

milienangehörigen in Syrien, wenn sie sich öffentlich zu den Erlebnissen

in ihrem Herkunftsland äußern. Deshalb wird der Nachname von Adnan

A. und seiner Familie in diesem Artikel nicht preisgegeben. Die Zitate ent-

stammen einem Gespräch mit der Autorin.

lernt fleißig Deutsch, um so bald wie möglich in Mün-

chen sein Medizinstudium fortzusetzen, das er im Win-

tersemester 2011 in Damaskus begonnen hat. Auf dem

Papier hat er sich zwar erst auf B1-Niveau 

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gebüffelt, doch

wenn er spricht, macht er kaum Fehler.

„Heimat ist für mich ein schwieriges Wort“, meint

Adnan A. „Eigentlich ist das nur meine Mutter, die noch

immer in Damaskus ist. Unser Haus, meine Schule,

meine Kindheit: Alles wurde zerstört. Von den ersten

zwanzig Jahren meines Lebens habe ich nur noch mein

Schulabschluss-Zeugnis, alles andere ist verloren“, sagt

er. Adnan A. würde nach dem Krieg sofort nach Syrien

zurückkehren, um das Land wieder aufzubauen, sagt er. Er

glaubt allerdings nicht daran, dass es in den nächsten zehn

Jahren dazu kommen wird.

Ein Staat vom Reißbrett

Wie kann wieder Frieden einkehren in einer Heimat,

die verloren scheint? Eine Frage, über die sich nicht nur

auf der Syrien-Konferenz in Genf oder auf der Münch-

ner Sicherheitskonferenz die Köpfe zerbrochen werden.

Unzählige

Think Tanks

,

NGOs

, Politiker und Menschen-

rechtsaktivisten arbeiten fieberhaft an Lösungsmodellen

für ein Land in der Auflösung. Jede gute Idee scheint

dem Interesse eines der beteiligten, für den Friedens-

schluss unverzichtbaren Akteure zu widersprechen. Ideen

bleiben Ideen; Versuche scheitern. Den letzten stellte der

wackelige „Drei-Punkte-Plan“ aus München 

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dar. Doch

wie konnte es überhaupt so weit kommen in Syrien? Eine

Frage, der man sich historisch nähern muss.

Ein kurzer Blick auf die Karte: Der kerzengerade Strich,

der über etliche Kilometer hinweg syrisches von jordani-

schem und irakischem Staatsgebiet trennt, wurde einst im

8 Die Angabe entstammt den Niveaustufen des Gemeinsamen Europäi-

schen Referenzrahmens beim Erlernen einer Fremdsprache. Das Niveau

B1 bedeutet unter anderem, dass der Sprachschüler die Hauptinhalte in

alltäglichen Gesprächen verstehen kann, wenn klare Standardsprache

verwendet wird und er sich einfach, aber verständlich darin ausdrücken

kann. Vgl.

http://www.europaeischer-referenzrahmen.de/sprachniveau.php

[Stand: 14.02.2016].

9 Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2016 einigte sich

die sogenannte „Internationale Syrien-Kontaktgruppe“ (ISSG) auf einen

Friedensplan, der ein Ende der Kämpfe binnen einer Woche, humanitäre

Hilfe durch Versorgung notleidender Menschen aus der Luft und auf dem

Landweg sowie neue Bemühungen um einen politischen Übergang vor-

sah. An der Einhaltung an der seit dem 27. Februar geltenden Feuerpause

bestanden schnell erhebliche Zweifel. Am 1. März beschuldigte Israel die

Assad-Regierung, trotz des Waffenstillstands Chlorgasbehälter auf Zivi-

listen abgeworfen zu haben. Vgl. „Israel wirft Syrien Einsatz von Che-

miewaffen vor“, in: Spiegel Online:

http://www.spiegel.de/politik/ausland/

syrien-setzt-laut-israel-chemiewaffen-gegen-zivilisten-ein-a-1080154.

html [Stand: 01.03.2016].“

Adnan A. vor dem Hauptgebäude der Münchner LMU. Hier würde er gerne

sein Medizinstudium fortsetzen.

Foto: Kristina Milz