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Syrien stirbt

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

türkischen Grenze, um dabei zu helfen, seine Landsleute

mit dem Allernötigsten zu versorgen. An der schreckli-

chen Entwicklung in seinem Land ändert dies alles nichts.

„Die Freiheit ist eine Krone auf dem Kopf der Freien, die

nur von Unfreien gesehen wird“, sagt er.

Die Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in

Syrien ist lang. Sie werden von allen Kriegsparteien began-

gen, doch in besonderem Maße vom Assad-Regime. 

42

Eine bis vor kurzem vergleichsweise wenig bekannte

Waffe des Regimes erfuhr in den vergangenen Mona-

ten zunehmend auch international Aufmerksamkeit: Im

Januar 2014 erreichten erstmals mehr als 28.000 Fotos die

Öffentlichkeit, auf denen in syrischen Regierungsgefäng-

nissen zu Tode gefolterte oder verhungerte Menschen zu

sehen sind. Die Bilder wurden aus Syrien herausgeschmug-

42 Nicht nur die

Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte,

deren

Berichte sich bisher durchaus als glaubwürdig erwiesen haben, sondern

auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie

Amnesty Inter-

national

und

Human Rights Watch

und die Vereinten Nationen berichten

regelmäßig über das Ausmaß der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen

die Menschlichkeit.

gelt und haben sich als authentisch erwiesen: Zahlreiche

Opfer konnten mithilfe von Freunden und Verwandten

identifiziert werden. Viele hatten monate-, mitunter jah-

relang versucht, ihre Angehörigen zu finden. Sie waren

plötzlich verschwunden, niemand hatte jemals von ihrer

Inhaftierung erfahren. 

43

Adnan A., der junge Syrer aus der

Münchner WG, weiß, was das im Einzelfall bedeutet: Sein

Vater ist einer der Verschwundenen.

Adnan A.’s Vater ging an einemTag imOktober 2012 zur

Arbeit und kam nicht mehr zurück. Keiner in der Familie

hatte sich jemals politisch engagiert, an den Demonstratio-

nen hatten sie aus Furcht vor dem Regime nicht teilgenom-

men. Seit dem Massaker von Hama von 1982 wurde in der

Familie nicht einmal mehr im Privaten über Politik gespro-

chen: „Die Wände haben Ohren“, hieß es stets. Die Angst

vor Assads Geheimdiensten war groß und machte vorsich-

tig. Das änderte nichts daran, dass der Familienvater spurlos

verschwand und bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. Frau

und Kinder sind von dessen Tod überzeugt. Einen Beweis

dafür haben sie nicht. Einen Cousin, der ebenfalls spurlos

verschwand, haben sie jedenfalls als Leiche auf einem Foto

entdeckt, das aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde.

Als sich Adnan A.’s Bruder Ahmad bei der Polizei nach

dem Verbleib seines Vaters erkundigen wollte, verbanden

ihmdie Polizisten kurzerhand die Augen und steckten ihn ins

Gefängnis. Dort wurde er gefoltert. Immer wieder Schläge,

kein Essen, kein Wasser, kein Licht. In seiner Zelle waren

mehr als 200 Menschen zusammengepfercht; zum Schlafen

wechselten sie sich aus Platzmangel imDrei-Stunden-Rhyth-

mus ab. Die drei Monate Haft seien dem heute 27-Jährigen

wie dreißig Jahre vorgekommen, sagt sein Bruder. Ahmad

A. selbst spricht nicht über diese Zeit. Es ist zu schmerz-

haft. Auch er ist mittlerweile in Deutschland. Psychologi-

sche Hilfe will er nicht in Anspruch nehmen: Da sind doch

die anderen, die, die noch in Syrien sind. Ihnen gehe es viel

schlechter. Und da ist sein Vater, den er für tot hält: Wenn

dieser in einem ebensolchen Gefängnis war wie er selbst, hat

er es wohl kaum lange überlebt. Der Vater war schon lange

43 Die Menschenrechtsorganisation

Human Rights Watch

hat aus den Bil-

dern und den Geschichten, die sie erzählen, einen 86-seitigen Bericht

über die syrische Massenfolter mit Todesfolge zusammengestellt; ARTE

zeigte eine Dokumentation; das Magazin der deutschen Wochenzeitung

DIE ZEIT brachte „Die Verschwundenen von Syrien“ auf den Titel. Hu-

man Rights Watch: If the Dead Could Speak. Mass Deaths and Torture

in Syria’s Detention Facilities, Dezember 2015; online:

https://www.hrw

.

org/report/2015/12/16/if-dead-could-speak/mass-deaths-and-torture-

syrias-detention-facilities [Stand: 14.02.2016]; „Vermisst! Syriens ge-

heime Kriegswaffe“, ein Film von Sophie Niveller-Cardinale und Etienne

Huver, Frankreich 2015; Annabel Wahba und Anna Kemper: Im Schatten

des Krieges, in: ZEIT Magazin 51 vom 17.12.2015, S. 18–33.

Mohammad Kahlawi im Juni 2012 bei einer Aktion am Münchner Odeonsplatz

Foto: Kristina Milz