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Zeitgeschichte im Medium der
graphic novel
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eine kurze Einführung
Kann ein geschichtliches Ereignis wie die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, der Erste Weltkrieg, auch nur
ansatzweise in Form eines Comics dargestellt werden? Bedeutet das nicht automatisch die Marginalisierung des
Kriegs in seiner Schrecklichkeit?
Im Genre der Comics gibt es große Unterschiede – zum einen die grellbunten Superheldengeschichten oder
Dramen aus Entenhausen, zum anderen aber auch
graphic novels,
die
näher an der Literatur zu verorten sind
und sich von den standardisierten Charakteren und Erzählmustern traditioneller Comics wegentwickelt haben.
Eine ganze Reihe literarischer Klassiker hat ihre Adaption im Comic schon gefunden. Während gerade im
deutschsprachigen Raum Comics lang als drittklassige „Schundliteratur“ angesehen wurden, werden sie etwa
in Frankreich oder in Japan schon lange als ernstzunehmende Kunstform betrachtet, mit der ganz individuelle
Zugänge zur Geschichte möglich werden.
Zwar sind auch hierzulande die Zeiten vorbei, in denen die Bildergeschichten als Gefahr für die Intelligenz der
Jugend, wenn nicht sogar als Beitrag zumUntergang der Zivilisation verdammt wurden. Doch gerade die
graphic novel
ist in der breiten öffentlichenWahrnehmung laut dem französischem PhilologenThierry Groensteen immer noch ein
‚unidentifiziertes kulturelles Objekt‘. Dies ist schade, denn die
graphic novel
bietet ein großes Potential für das Erzählen
interessanter Geschichten. Und dazu gehören definitiv auch Stoffe der jüngeren und jüngsten Vergangenheit.
Dass dieses Potential zur Vermittlung von Zeitgeschichte von den Autoren und Zeichnern sehr wohl wahr-
genommen wurde und wird, lässt sich an den zahlreichen Veröffentlichungen ablesen, die zeitgeschichtliches
Geschehen thematisieren. Interessant ist, dass viele dieser
graphic novels
häufig die Schicksale der Generation der
Eltern oder Großeltern aufarbeiten. Dabei steht fast immer die Biographie historisch authentischer oder doch
zumindest authentisch wirkender Figuren im Mittelpunkt der Erzählungen. Natürlich schöpfen hier die Künst-
ler die große Bandbreite zwischen fiktionaler und faktualer Narration aus.
Ein ungemein attraktives Merkmal der
graphic novel
ist die große Ähnlichkeit mit demMedium Film. Einstel-
lungen, Perspektivwechsel, Effekte wie Zwischenschnitte, Cross Cutting, Rückblenden und vieles mehr sind im
Comic möglich. Diese filmischen Möglichkeiten und die Verbindung der Sprache des Wortes und der Sprache
des Bildes schaffen eine eigene Dimension der Vermittlung der erzählten Geschichte. Die besondere Authentizi-
tät der Figuren und Geschichten, seien sie nun real oder fiktional, macht es den Leserinnen und Lesern möglich,
sich mit den Figuren und dem Geschehen zu identifizieren und die Geschichte „emotionalisiert“ mitzuerleben.
Dieser „gefühlte“ Lernprozess hat natürlich – wie alle subjektiven Lernprozesse – auch Schattenseiten.
Die
graphic novel
eröffnet als hochkomplexes Medium mit schier unbegrenzten grafischen Möglichkeiten dem
interessiertem Leser auch Dimensionen der genaueren Dechiffrierung: Erzählstruktur, Symbolik, Blickwinkel
sind nur einige der Analysekriterien, die es zu berücksichtigen gilt – damit kann die
graphic novel
auch die all-
gemeine Medienkompetenz schulen.
Memoria 1914–1918
erfüllt viele der genannten Kriterien einer klassischen
graphic novel
und ist auf seine
Erzählweise und Ästhetik auch wieder ganz eigen. Der junge Autor Nicolas Dehais, der aus einer deutsch-fran-
zösischen Familie stammt, verarbeitet darin schlaglichtartig die aus heutiger Sicht bizarr erscheinende Situation,
dass sich seine beiden Urgroßväter als Feinde in den Schützengräben direkt gegenüber gelegen haben könn-
ten – eine Perspektive, die auch im vielfältigen Spektrum der jüngst erscheinenden Literatur herausragt. So
gibt es eine Reihe von Heften zum Thema Erster Weltkrieg (siehe u.a. Alexander Hogh/Jörg Mailliet, Tagebuch
14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich; Joe Sacco, Der Erste Weltkrieg: Die Schlacht an der
Somme; Jaques Tard/Jean-Pierre Verney, Elender Krieg 1914–19) und doch berührt die vorliegende Erzählung
über das Leben und Sterben in den Gräben an der Westfront durch ihre eindringliche Authentizität. Die Figuren
(die beiden Großväter des Verfassers und Zeichners) existierten wirklich, der Autor hat das Geschehen anhand
von Aufzeichnungen und Erzählungen rekonstruiert und in der Zuspitzung des Zusammentreffens der beiden
Hauptfiguren fiktionalisiert. Die Zweisprachigkeit ist dabei weiteres persönliches Merkmal. Diese Geschichte
marginalisiert den Krieg nicht durch die Art ihrer Erzählung, sie tut das, was die
graphic novel
am besten kann:
Sie eröffnet individuelle Zugänge zur Zeitgeschichte.
Monika Franz und Philipp Rabl