Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 223

Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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71 Jan Lipinsky: Das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und seine Entstehungs-
und Rezeptionsgeschichte von 1939–1999, Frankfurt am Main 2004, S. 446.
72 Dietmar Müller/Stefan Troebst: Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in der Europäischen Geschichte und Erinnerung. Eine Einführung, in: Anna
Kaminsky, Dietmar Müller und Stefan Troebst: Der Hitler-Stalin Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göppingen 2011,
S. 17.
73 Jakowlew berichtet, dass erst, nachdem Boris Jelzin Präsident Russlands geworden war, sich im präsidialen Archiv das Original dieser Ge-
heimprotokolle fand, „nach denen man in der ganzen Welt gesucht hatte.“ Jakowlew war in dieser Beziehung auch enttäuscht über Gorba-
tschow, der von der Existenz des Protokolls gewusst haben muss. Alexander Jakowlew: Die Abgründe meines Jahrhunderts, Leipzig 2003,
S. 501.
74 Ebd., S. 499.
75 Ebd., S. 780.
76 Ebd., S. 783.
77 Helmut Altrichter: Russland 1989, München 2009, S. 289.
Reichsaußenminister Ribbentrop unterzeichnet im Moskauer
Kreml den deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsver-
trag. Im Hintergrund Stalin und der russische Regierungschef
und Außenkommissar Molotow.
Foto: Bundesarchiv - Presse-Diffusion, Lausanne; Presse-Hoffmann
standenen Imperiums. Die Opposition in den baltischen
Sowjetrepubliken thematisierte den Vertrag ebenso wie in
Polen schon längere Zeit. 1987 forderten z.B. 3.000 De-
monstranten in Litauen von den „Unterzeichner- bzw. den
Nachfolge-Staaten (UdSSR, DDR und Bundesrepublik
Deutschland) die Ächtung und Annullierung des Pakts so-
wie die Beseitigung seiner Folgen und damit Freiheit für Li-
tauen“.
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Die in der Sowjetunion „kanonisierte Darstellung
des Hitler-Stalin-Pakts, wie sie bereits Ende der 1930er Jah-
re geschaffen wurde“ basierte auf einer Lüge. Danach gab es
kein „Geheimes Zusatzprotokoll, sodass der Pakt als Nicht-
angriffsvertrag mit friedlichen Absichten seitens Moskaus
dargestellt werden konnte“.
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Der Kongress der Volksde-
putierten bildete 1989 eine Kommission unter Leitung von
Jakowlew, die in den sowjetischen Archiven der Frage nach
der Existenz des Originals des Geheimen Zusatzprotokolls
nachging. Das Original selbst wurde nicht gefunden,
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aber
im Außenministerium existierte das Protokoll der Überga-
be des Geheimprotokolls an das Archiv von 1946.
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Ja-
kowlew nutzte diese Information in seiner Rede vor dem
Kongress als Beleg für die Existenz des Geheimprotokolls.
Bei der Beurteilung seiner historischen Bedeutung stützte er
sich auf Stalins Wertung des Vertrags: „Nach einer Aussage
von Chruschtschow hat Stalin wie folgt kommentiert: ,Hier
geht es um das Spiel, wer wen überlistet und täuscht.‘“ Und
er fügte hinzu: „Ich habe sie übers Ohr gehauen.“ Mit der
deutschen Redaktion des Protokolls übernahm er Postula-
te wie „Interessensphären“, „territorial-politische Umge-
staltung“ und dergleichen, was bis dahin als „Werk der Po-
litik imperialistischer Aufteilung und Umverteilung der
Welt galt“.
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Für Jakowlew spiegelte sich in dem Geheim-
protokoll „das innere Wesen des Stalinismus“.
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Der Kon-
gress billigte eine Resolution, in der er den Vertrag als sol-
chen für legitim erklärte, zumal er mit dem deutschen An-
griff am 22. Juni 1941 erlosch. Das Geheime Zusatzprotoll
dagegen erklärte der Kongress schon beim Abschluss für
null und nichtig, ohne auf seine Konsequenzen näher ein-
zugehen. Gegner der Resolution begründeten ihr Nein mit
der Befürchtung, damit „den Zerfall des Staates zu fördern.“
Aber dieser Prozess war bereits im Gange, am 12. Novem-
ber 1989 „hatte Estland seinen Beitritt zur Sowjetunion
nachträglich für ungültig erklärt, am 7. Februar 1990 folgte
Litauen, am 15. Februar 1990 Lettland“.
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Als diese Debat-
te im Baltikum und in Moskau 1989/90 geführt wurde, wa-
ren Honecker und die SED-Diktatur in der DDR bereits
Geschichte.
Die Politik der Demokratisierung und damit der
Umgestaltung der Strukturen des von der Partei geführten
Einheitsstaates und der Einführung einer freien Presse im-
plizierten bereits eine Einschränkung des Machtmonopols
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