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aviso 1 | 2018

SKIZZE UND IDEE

COLLOQUIUM

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Das Sichtbare als Unhörbares

Nun muss nicht gleich geleugnet werden, dass unbewusste

Kräfte beimSchaffenmusikalischer Verläufe mitwirken, wenn

die Situation der Komponistenwerkstatt nüchtern in den Blick

genommen wird. Das leere Notenblatt auf dem Schreibtisch.

Leblos starrende Fünflinien-Systeme, die mit Punkten, Häl-

sen und Fähnchen bevölkert werden wollen. Die Tabula rasa

als Freifläche für die schriftliche Fixierung künftig zu hören-

der Ereignisse – wie paradox: Das Sichtbare als Unhörbares,

das später Hörbare als Unsichtbares. Tatsächlich ist Kompo-

nieren eine der komplexesten denkerischen Handlungen, zu

denen das menschliche Gehirn fähig ist. Komplex (und nicht

bloß kompliziert)? Ja, denn ohne die absolute Vorstellung

von Tonhöhen und Zusammenklängen, ohne die prospektive

Kraft für Dimension und Proportion von Gesamtdauer und

Zeitabschnitten eines musikalischen Verlaufs ist Kompo-

nieren nicht zu leisten. Weiter: ein untrügliches Gedächtnis

für die horizontale wie für die vertikale Ereignisfolge einer

Komposition ist ebenso unentbehrlich wie das Imaginations-

vermögen für die klanglichen Kombinationsmöglichkeiten

von Vokalstimmen und Instrumenten. Und wer nicht über

die Fähigkeit verfügt, auditive Vorstellungen ins optische

Mediumder Schrift zu überführen, überhaupt gehörsinnliche

Gedanken – gemeinhin musikalische Einfälle genannt – zu

fassen und in eine graphische Form zu überführen, die denk-

bar weit von ihrem Ursprung entfernt sind, der sollte sich in

kluger Bescheidung nicht Komponist nennen.

ie grundlegende Bedeutung der schriftlichen Fixie­

rung von Kompositionen reicht aber insofern wei-

ter, als sich sowohl in der Niederschrift als auch im

Schreibvorgang des Komponisten, der an ihr ablesbar ist, der

gedankliche Entstehungsprozess eines Werks spiegelt oder

zumindest spiegeln kann. Das gilt vor allem für diejenigen

Niederschriften, die vor der endgültigen Formung eines Werks

liegen. In solchen Skizzen, Entwürfen und fragmentarischen

Arbeitsnotaten vermögen geschulte Au-

gen und Ohren basale Denkvorgänge

auszumachen: Der Komponist konzen­

triert sich auf zentrale Formelemente des

Tonsatzes, notiert etwa charakteristische

Melodieverläufe oder zentrale harmoni-

sche Vorgänge, noch ohne die Gesamt-

gestalt des Werks detailliert imKopf zu

haben. Erst aus derartigen Denkpro-

tokollen erwächst der Notentext, den

der ausübende Musiker schließlich auf

seinem Pult vorfindet, zuletzt meist in

gedruckter Form. Auch wenn der Prak-

tiker in der Regel die Genese der musi-

kalischen Aufzeichnung nicht nachvoll-

zieht, sondern lediglich das Endprodukt

zum Klingen bringt, so gilt letztlich

auch hier die schon von demHistoriker

Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhun-

dert formulierte Einsicht, dass wir das,

was ist, erst ganz verstehen, wenn wir

erkennen und uns klarmachen, wie es

geworden ist, aber wie es geworden ist

nur erkennen, wenn wir möglichst ge-

nau erforschen und verstehen, wie es ist.

Gedankenstrom und Schreibfluss

einander annähern

»mach Scizzi. […] alle machen es so«,

legt LeopoldMozart einmal seinemSohn

nahe, ein Rat, dessen dieser kaum be-

durfte, denn das abkürzende, aufs ab-

solut Notwendige skelettierte Festhalten

musikalischer Ereignisfolgen gehörte

ohnehin, wie allgemein üblich, zu Wolf-

gang Amadés Arbeitsgewohnheiten. Da-

für sprach ein nicht zu umgehender, stets

misslicher Umstand, demKomponisten

zu allen Zeiten pragmatisch begegne-

ten (und begegnen): Das Aufschreiben

von Musik benötigt viel mehr Zeit als

das Erklingen des Geschriebenen, und

je schneller eine Musik, je volltönender

sie ist, desto breiter wird die Kluft. Was

auf der ersten Partiturseite der Ouver-

türe von Johann Strauss’ Operette

Die

Fledermaus

steht (Abb. 1), beansprucht

bei einer Aufführung knapp sieben

Sekunden Zeit. Den Komponisten hat

die Niederschrift dieser Seite aber schät-

zungsweise eine Viertelstunde beschäf-

tigt, mehr, als das ganze Stück dauert.

42 solcher Seiten umfasst die gesamte

Ouvertürenpartitur. Ein routinierter

und metiersicherer Musiker würde sie

bei gehöriger Ausdauer an einem Tag

© Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 97

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