Meist wurde es im Zusammenhang
mit Gesamtschulen eingerichtet, als
„kleine Gesamtschule" für die Jahr–
gangsstufen 5 und 6.
Die Schwächen des Modells
'Aufbaustufe'
Wissenschaftliche Untersuchungen
haben immer wieder klar gezeigt,
dass Gesamtschulen die Lernleistun–
gen des gegliederten Schulwesens nur
in den Fächern allenfalls erreichen
können, in denen sorgfältig und durch–
gehend differenziert wird, d.h., in de–
nen die Schüler in verschiedene leis–
tungsbezogene Lerngruppen aufgeteilt
werden. Allerdings ist dies auch dann
noch mit einem erheblich höheren or–
ganisatorischen und finanziellen Auf–
wand verbunden als im gegliederten
Schulwesen. Unterbleibt hingegen eine
Differenzierung, so geraten Gesamt–
schüler in einen deutlichen Lernrück–
stand, da in den heterogenen Klassen
den Anlagen und Fähigkeiten des ein–
zelnen Kindes viel weniger Rechnung
getragen werden kann als in Haupt–
schule, Realschule und Gymnasium.
Gerade hierin liegt das grundle–
gende Dilemma der Gesamtschulidee:
ein nicht zu lösendes Spannungsver–
hältnis zwischen der begabungsge–
rechten Förderung und der Integration
in eine Klassengemeinschaft. Würde
man nämlich in allen Fächern die Kin–
der nach begabungsgerechten Lern–
gruppen differenzieren, so müsste ein
kompliziertes Kurssystem eingerichtet
werden, das niemand den fünft- und
Sechstklässlern zumuten will. Daher
nehmen Förder- und Orientierungsstu–
fen, wenn überhaupt, höchstens in zwei
oder drei Kernfächern, also in Eng–
lisch, Mathematik und manchmal in
Deutsch, eine leistungsbezogene Diffe–
renzierung vor.
Das bedeutet aber zum einen, dass
in Fächern wie Geschichte, Erdkunde
und Biologie, in denen die Kinder ge–
meinsam unterrichtet werden, bei ei–
nem Unterricht auf mittlerem Niveau
die Schwächeren oft überfordert und
frustriert, leistungsstärkere Schüler hin–
gegen nicht genügend gefordert wer–
den . Diese Beobachtung machten zum
Beispiel durch eigene Erfahrung die
Rektoren von sechsjährigen Berliner
Grundschulen . Zum anderen würde
eine Leistungsdifferenzierung in den
drei Kernfächern immer noch dazu
führen, dass die Kinder ungefähr die
Hälfte der Unterrichtszeit in verschie–
denen Kursen zubringen, in denen sie
mit immer neuen Schülern aus anderen
Klassen sitzen . Ein stabiles emotiona–
les Umfeld könnte sich für das einzel–
ne Kind also nur schwer entwickeln.
Aus diesem Dilemma heraus ma–
chen Förder- und Orientierungsstufen
gezwungenermaßen Abstriche bei der
Leistungsdifferenzierung . Dass in einer
neuen 'Aufbaustufe' eine sorgfältige,
durchgehende Differenzierung besser
gelingen sollte, erscheint utopisch .
Schon gar nicht, wenn, wie überlegt
wird, die Differenzierung nur stunden–
weise oder erst in der sechsten Klasse
erfolgen soll. Es ist also kaum vorstell–
bar, dass Schüler, die noch der sechs–
ten Klasse der Aufbaustufe ans Gym–
nasium übertreten, mit denjenigen mit–
halten können, die sich bereits seit
zwei Jahren dort befinden . Die zwangs–
läufige Folge wäre die Einführung ei–
nes Zwei-Klassen-Gymnasiums. Ebenso
würde bei einer halbherzigen Diffe–
renzierung gegenüber den Möglich–
keiten der sechsstufigen Realschule
wertvolle Lernzeit verschenkt.
Nicht zuletzt ist zu bedenken: Wenn
die Leistungsdifferenzierung nicht sorg–
fältig durchgeführt wird, besteht am
Ende der zweijährigen Aufbaustufe
keine höhere Diagnosesicherheit über
die Schuleignung eines Kindes als
nach der vierten Klasse. Die Schullauf–
bahnentscheidung würde also ledig–
lich hinausgeschoben, ohne dass neue
Erkenntnisse gewonnen würden.
Erfahrungen
mit der Orientierungsstufe
Bayern hat, ebenso wie die ande–
ren Länder der Bundesrepublik, in den
70er und 80er Jahren Gesamtschulen
und Orientierungsstufen in einem lang–
jährigen Schulversuch erprobt und wis–
senschaftlich begleitet. Die wenig über–
zeugenden Versuchsergebnisse veran–
lassten die Bayerische Staatsregie–
rung, das Thema
Gesamtschule und
Orientierungsstufe
endgültig ad acta
zu legen . Sechs der am Versuch betei–
ligten Schulen behielten als 'Schulen
besonderer Art' aus individuellen Grün–
den weiterhin zwar ihre Gesamtschul–
struktur bei . Zwei von ihnen haben je–
doch inzwischen den Antrag gestellt,
die Jahrgangsstufen 5 und 6 als schul–
artbezogene Klassen führen zu dür–
fen, d.h . als Hauptschul-, Realschul–
und Gymnasialklassen.
Auch in Hessen, wo eine große Zahl
von Gesamtschulen mit Förderstufen
existiert, die den Orientierungsstufen
entsprechen, geht der Trend eher weg
davon. Etwa ein Drittel der kooperati–
ven Gesamtschulen haben in den letz–
ten Jahren bereits ihre Förderstufe ab–
geschafft und durch getrennte Haupt–
schul-, Realschul- und Gymnasialklas–
sen ersetzt. Auf Wunsch einer Reihe
weiterer Gesamtschulen wird diese
Umwandlung künftig noch erleichtert:
Das neue Schulgesetz gestattet nun,
bei einer Zwei-Drittel-Mehrheit in der
Schulkonferenz die Förderstufe auf–
zulösen und stattdessen schulartbezo–
gene Klassen einzurichten.
In Nordrhein-Westfalen wurden im
Rahmen des Forschungsprojektes 'Bil–
dungsverläufe und psychosoziale Ent–
wicklung im Jugendalter (BIJU)' durch
das Max-Planck-Institut für Bildungsfor–
schung Berlin unter anderem Gesamt–
schüler mit Realschülern verglichen,
die von Herkunft und Begabung ein–
ander ähnlich waren. Es zeigte sich,
wie Ulrich Sprenger, Vorsitzender des
Arbeitskreises
Gesamtschule,
berich–
tet, dass schon nach zwei Jahren För–
derstufe mit leistungsgemischten Lern–
gruppen die Gesamtschüler gegenü–
ber den Realschülern in Englisch und
Mathematik einen Rückstand von
mehr als einem bzw. fast einem Jahr
aufwiesen.
Sprenger fasst die Ergebnisse des
Forschungsprojektes und seine eige–
nen über 20-jährigen Erfahrungen als
Lehrer und mehrjähriges Mitglied der
Schulleitung an einer nordrhein-west–
fälischen Gesamtschule so zusammen :
„Trotz der Faszination der Gesamt–
schulidee, trotz des hohen Engage–
ments der dort tätigen Lehrerinnen und
Lehrer, trotz vielen Geldes und viel gu–
ten Willens vermittelt das gegliederte
Schulwesen den Kindern größere
Chancengleichheit, höhere individuel–
le Förderung - und ein besseres Sozi–
alverhalten."
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