Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 282

Utopiebegriff hat sich Politikwissenschaftler Dr. Maurice
Schuhmann, der derzeit in Paris lehrt, intensiv auseinander-
gesetzt. „Utopien sind ein immer noch sehr negativ besetz-
ter Begriff. Von Dingen, die nicht möglich sind und welt-
fremd. Utopien sind aber sehr wichtig für und in einer Ge-
sellschaft, damit Dinge vorstellbar werden, eine Vision vom
Zusammenleben oder auch des Individuums geschaffen
wird undman sich kollektiv damit auseinandersetzt, wie wir
eigentlich in Zukunft leben möchten.“ Es geht also mehr
darum, an einer Vorstellung zu arbeiten, als eine Utopie zu
verwirklichen.
Gesellschaftliche Bedeutung alternativer
Lebensformen
Die porträtierten Lebensformen haben alle zwei grundle-
gende Ziele gemein: die (Weiter-)Bildung der Gesellschaft
und das Handeln im jeweiligen Umfeld, um dort das Beste
zu bewirken. Es geht nicht darum, ein ideales Gesell-
schaftsmodell, Leitbild oder Vorbild zu finden, an dem sich
die gesamte Gesellschaft orientieren soll. Sie alle wollen we-
der moralisieren noch bekehren, sondern Bewusstsein
schaffen. Auch vertritt keiner von ihnen eine Verelendungs-
theorie. Denn in so einer Situation handelt man vor allem
im Affekt, da man den schnellsten Weg aus seinem Elend
sucht. Das ist jedoch nicht die Grundlage, die eine Verän-
derung hin zum nachhaltigen Leben braucht. Die Annahme
ist, das wenn wir begreifen, inwiefern unser individuelles
Handeln andere Menschen oder die Umwelt schädigt, wir
gerne unser Bestes dazu tun, dies zu verhindern. So werden
wir Begrenzungen in unserem Leben nicht als oktroyierte
Einschränkungen erfahren, sondern freiwillig und aus
Überzeugung eine globale ökonomische Version des gesell-
schaftlichen Leitsatzes Immanuel Kants: „Die Freiheit des
Einzelnen endet, wo die des anderen beginnt“ leben. Ziel ist
es, nachhaltiges Zusammenleben und Handeln so in den
Alltag der Menschen zu integrieren, dass bestimmte Ver-
haltensweisen zur Gewohnheit werden.
Die vorgestellten Lebensformen unterscheiden
sich in den Ansichten, wie dieses Bewusstsein als Hand-
lungsgrundlage genutzt werden kann, und tun dies in ihrem
jeweiligen Umfeld. Sie alle zielen jedoch darauf ab, die
Verantwortung des Einzelnen im globalen Kontext heraus-
zustellen. Es sind keine alternativen Lebensformen im Sin-
ne von Ablehnung und Rebellion, sondern im definitori-
schen Sinne von „eine andere, zweite Möglichkeit darstel-
lend“ bzw. „zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten
die Wahl lassend“. Sie leiten uns dazu an, uns Alternativen
für die Zukunft vorzustellen. Das ist von großer Bedeutung;
denn wie soll man Leute motivieren, sich für eine bessere
Zukunft einzusetzen, wenn niemand weiß, was „besser“ be-
deutet, wie das aussehen kann und welche Rolle man selbst
Realizing Utopia
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
282
und andere in dieser Zukunft einnehmen? Vor allem in
Deutschland haben alternative Lebensformen und Bewe-
gungen laut Dr. Schuhmann spezifische Bedingungen:
„Aufgrund der negativen Erfahrungen mit Utopien des
20. Jahrhunderts haben viele Menschen Angst vor großen
Ideen bzw. wurden sie verworfen. Man denkt von vornher-
ein nicht, dass Dinge überhaupt realisierbar sind. Wir müs-
sen unbedingt wieder diese Freiräume für anderes Denken
schaffen“, sagt er. „Die Angst vor Veränderung ist der größ-
te Hemmschuh. Die muss genommen werden, und deshalb
ist es so wichtig, dass Bewegungen zeigen: ‚Schaut her, es ist
möglich so zu leben‘ und auch bestimmte Lebensweisen von
Klischees und Stereotypen befreien. Wer bei den Bewoh-
nern von Ökodörfern an ehemalige 68er-Hippies mit lan-
gen Haaren denkt, lebt nicht in der Wirklichkeit.“ Dr. Peter
Seyferth, politischer Philosoph von der LMU, sieht das
ähnlich: „Wir haben heutzutage keine Vorstellungskraft
mehr. Sie reicht zwar noch dazu aus, Angst zu haben vor der
Zukunft, aber nicht dazu, sich eine andere, neuartige Zu-
kunft vorzustellen.“
Hierin besteht laut Dr. Schuhmann neben der Po-
sitionierung und den Aufgaben der Bewegungen auch die
herausragende Bedeutung von Bildungsarbeit: beim not-
wendigen Abbau von Berührungsängsten mit alternativen
Lebensformen und Denkweisen und bei der Schaffung von
Freiräumen autonom, kritisch und in größeren Zusammen-
hängen zu denken sowie Verantwortung für das eigene
Handeln und die Mitmenschen zu übernehmen. „Wir brau-
chen eine neue Aufklärungsbewegung, die kritisches Den-
ken und Hinterfragen fördert und vorlebt. Lehrkräfte – sei
es an Schulen oder Universitäten – haben ein hohes Poten-
zial, gesellschaftliche Veränderung zu initiieren, ähnlich wie
Journalisten. Sie können Dinge entlarven und Aufklärungs-
arbeit leisten.“ Wir müssen also einen gesellschaftlichen
Diskurs über Optionen eines Zusammenlebens führen und
alternative Vorschläge zulassen. Hier spielt wieder das Ver-
mögen, nach vorn zu blicken und über Alternativen nach-
zudenken, eine große Rolle: „Eine der Hauptaufgaben von
Bildung sollte sein, dass sie uns dabei hilft, unsere Vorstel-
lungskraft zu stärken und das Wünschen wieder zu erler-
nen. Nicht das individuelle Wünschen, sondern uns eine
Gesellschaft zu wünschen, in der wir gerne leben möchten.
Und uns auch selbst überlegen: Was wünschen wir wirklich,
zum Beispiel billiges Fleisch, inklusive allem, was mit der
Produktion verbunden ist? Wünsche entstehen im Nichts.
Wünsche werden in Kommunikation miteinander erzeugt.
Wir müssen herausfinden, was wir wollen. Nicht so sehr
was ich will.", erklärt Dr. Seyferth.
Wo gehen diese Lebensformen hin, was ist ihr län-
gerfristiges Ziel in der Gesellschaft? Wie Kati und Verena
sagen, sind sie ja auch „Teil einer Bewegung“. „Viele dieser
Bewegungen können ja nur bestehen, weil es eine Über-
209...,272,273,274,275,276,277,278,279,280,281 283,284
Powered by FlippingBook