Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 281

Realizing Utopia
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
281
Wegweiser zum Ökodorf Sieben Linden
Foto: Marcus Andreas
In ihrer Blütezeit in den 1990er Jahren hatten Ökodörfer
oftmals das Ziel, als Modell für den Rest der Gesellschaft zu
dienen. Die meisten Ökodörf(l)er sind hiervon abgerückt –
obgleich es auch urbaneÖkodörfer gibt, kann das klassische
ländliche Dorf für viele Stadtbewohner kein direktes Vor-
bild sein. „Es geht jetzt mehr um den Austausch. Das Gan-
ze soll nicht mehr so einen belehrenden Charakter haben.
Viele Ökodörfer verstehen sich als ergänzende Bildungsin-
stitution, als offenen Raum, in dem Gesprächsbereitschaft
besteht und wo sich gemeinsam über Lebensweisen und
Probleme ausgetauscht werden kann und soll“, sagt Dr. An-
dreas. „Es sind fantastische Orte, um Dinge auszuprobie-
ren, und spannende Orte, die zeigen, was möglich ist. Wenn
von den Verbrauchern nur erwartet wird, dass sie Energie-
sparlampen kaufen und brav ihre Akkus an Mobiltelefon-
hersteller zurücksenden, dann muss man ganz klar sagen: Es
geht noch mehr! Es gibt Menschen, die so viel leisten, ohne
besondere Einschränkungen zu erfahren oder ihren Le-
bensstandard stark herunterzusetzen. Da könnenÖkodörf-
ler Vorbild sein.“
Die Frage bleibt aber trotzdem, inwiefern man dieses Leben
„hochskalieren“, also übertragen kann auf ein Leben in der
Stadt. Das herauszufinden, auch dazu tragen Ökodörfer im
Sinne von Forschungsprojekten bei. Es geht darum zu er-
kennen, welches Potenzial in Ökodörfern steckt und was
davon man auf größere Teile der Gesellschaft übertragen
kann. Wirklich 100 Prozent konsequent zu leben ist aber na-
türlich auch für Ökodörf(l)er schwierig. Es handelt sich bei
den Bewohnern ja oftmals um ehemalige Städter, die sich am
gesellschaftlichen Leben in der Welt beteiligen wollen. Die-
se Frage steht noch offen: Wie lebt man als moderner Kos-
mopolit, dem Nachhaltigkeit sehr am Herzen liegt, konse-
quent? Wie viel Konsequenz ist erforderlich um wirklich
sagen zu können, dass man nachhaltig lebt? „Eine Tole-
ranzgrenze muss jeder für sich selbst herausfinden“, so Dr.
Andreas.
Der größte Einwand, der gegenüber solchen und
ähnlichen Lebensformen hervorgebracht wird, ist der der
Unmöglichkeit, sie zu verallgemeinern, dass sie also keine
gesamtgesellschaftliche Lösung darstellen könnten. Wenn
von heute auf morgen alle diesen Lebenswandel vollziehen
würden, und das ist allen klar, würde das Wirtschaftssystem
vollständig zusammenbrechen. Allerdings geht es nicht um
einen Wechsel von heute auf morgen. Es geht vielmehr um
einen kontinuierlichen Wandel. „Immer mehr Menschen
sind der Meinung, dass sich das gesamte Wirtschaftssystem
ändern muss. Viele sprechen von Postwachstumsökonomie,
Green Economy etc. Das sind Ansätze. Aber den meisten
ist auch bewusst: Die Weltwirtschaft muss sich ändern.
Deutschland oder Bayern alleine kann das nicht.“
Marcus Andreas hat an einer wissenschaftlichen
Publikation über Ökodörfer mitgewirkt mit dem Titel
„Realizing Utopia“
19
(zu dt. „Utopia realisieren“). Ökodör-
fer stellen seiner Meinung nach keine abgeschlossenen Uto-
pien da – aber es sei ja vor allem der Prozess ihrer Verwirk-
lichung interessant mit all seinen überraschenden Erkennt-
nissen und manchmal auch Entbehrungen. Mit dem
Panoramaansicht des Ökodorfes Sieben Linden
Foto: Marcus Andreas
19 „Realizing Utopia – Ecovillage Endeavors and Academic Approaches, hg. v. Marcus Andreas und Felix Wagner, 2012.
209...,271,272,273,274,275,276,277,278,279,280 282,283,284
Powered by FlippingBook