Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 278

sie entstanden primär im Zusammenhang mit der Wirt-
schaftskrise von 1929 und erleben seit 2008 eine Renais-
sance.
13
Seit 2008 herrscht eine verstärkte Skepsis gegenüber
dem internationalen Finanzsystem und den Banken: „Am
Anfang des Jahres 2008 hatten lediglich 15 Prozent der Be-
völkerung den Eindruck, dass sich die nähere Zukunft aus-
gesprochen schwierig und unsicher darstellt, am Jahresende
48 Prozent. Gegenläufig verminderte sich der Kreis der
weitgehend Unbesorgten von 43 auf 10 Prozent. Die über-
wältigende Mehrheit befürchtete zu diesem Zeitpunkt, dass
die Folgen der Finanzmarktkrise tief in ihre persönliche Le-
benssituation eingreifen würden“, verzeichnet das Allens-
bach Institut in einer Umfrage aus dem Jahr 2012 über die
gesellschaftlichen Folgen der Finanzkrise von 2008
14
(Abb. 6).
Auch wenn diese Zukunftsängste mittlerweile wie-
der zurückgegangen sind und das Vertrauen in das markt-
wirtschaftliche System durch die anhaltend starke Wirt-
schaftsleistung Deutschlands und die bisher verhältnismä-
ßig geringen Auswirkungen der Krise auf den Bürger nicht
grundlegend erschüttert ist, so sehen doch immer mehr
Menschen unser derzeitiges System kritisch: „Trotz der
wachsenden Zufriedenheit mit der Bilanz des marktwirt-
schaftlichen Systems ist die Bereitschaft groß, sich auch ei-
ner grundlegenden Kritik an diesem System anzuschließen.
Dies zeigten zuletzt die Reaktionen auf die Kapitalismus-
kritik von Klaus Schwab, Gründer des Wirtschaftsforums
von Davos. Immerhin 48 Prozent der deutschen Bevölke-
rung schlossen sich seinem Verdikt an, in der derzeitigen
Form passe der Kapitalismus nicht mehr zu der Welt, die
uns umgibt“
15
(Abb. 7).
Im (Para-) DIES
Einen alternativen Lebensstil führt auch Agrarbetriebswirt
Robert Briechle aus Unterthingau im Allgäu. Er hat im Jahr
2000 die „Naturwert-Stiftung“ mitgegründet. Die Stiftung
will vor allem drei Themenbereiche fördern und ihren Bei-
trag dazu leisten: Bildung und Erziehung, Umwelt und
Landschutz sowie Kunst und Kultur. Es werden Projektta-
ge organisiert, Workshops für Kinder und Eltern oder Schu-
len veranstaltet sowie Pilotprojekte entwickelt und begleitet.
Es geht dabei unter anderem um Aufklärung und Verbrei-
tung des Permakulturprinzips, nach dem auch der Hektar
Realizing Utopia
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
278
Land aus dem Familiensitz von Robert Briechle ausgerich-
tet ist, den er seit 2003 umgestaltet. Die Australier Bill Mol-
lison und David Holmgren prägten den Begriff Permakultur
(Verknüpfung der Begriffe
perma
nent agri
culture,
dt. „dau-
erhafte Landwirtschaft“) in den 1970er Jahren. Sie waren auf
der Suche nach einem nachhaltigen System, das nutzbaren
Boden über Generationen hinweg sichert. Der massive Ein-
satz von Pestiziden und der Umstieg auf Monokulturen wa-
ren ausschlaggebend dafür, sich nach Alternativen zum kon-
ventionell-industriellen Ackerbau umzusehen. Der Wieder-
aufbau
von
Biodiversität,
die
Erhöhung
der
Bodenfruchtbarkeit sowie die Herstellung eines natürlichen
Kreislaufs zwischen allen natürlichen Elementen sollen si-
cherstellen, dass die Natur „für sich selbst arbeitet“ und nur
noch wenig menschliches Zutun notwendig ist. Es geht um
Nachhaltigkeit – aber nicht nur im ökologischen, sondern
auch im sozialen und ethischen Sinne. Für Robert Briechle
ist Permakultur nicht weniger als eine Lebensphilosophie.
Die Vorteile und Gründe dafür, dass Permakultur
so viel ertragreicher ist als herkömmliche Landwirtschaft
und sich zur Selbstversorgung eignet (Robert ernährt sich
zu ca. 90 Prozent aus seinem „DIES“),
16
sind, dass keine
Maschinen eingesetzt, sondern natürliche Kreisläufe herge-
stellt werden, wodurch sich automatisch verschiedenste Le-
bewesen ansiedeln und Mischkultur
17
gefördert wird. Alle
Pflanzen werden ausschließlich mit natürlichem Dünger
versorgt. Durch diese Art der Landwirtschaft können die
Erträge erheblich gesteigert werden: Die Ernte reicht zur
Ernährung von fünf bis acht Personen und auch bis über den
Winter hinaus. Aber weshalb haben nicht schon längst mehr
Bauern auf Permakultur umgestellt? Ist dieses Prinzip der
Bewirtschaftung nicht der Schlüssel gegen Hunger und Un-
terernährung weltweit? „Der Druck auf die Bauern ist groß,
dass sie die Leistung erbringen, die von ihnen gefordert
wird. Auch kann es sich kein Bauer leisten, von heute auf
morgen nur einenHektar Land zu bewirtschaften. Es ist au-
ßerdem eine große und arbeitsintensive Umstellung. Die
Erfolge im ,DIES‘ kommen vor allem daher, dass nicht mit
Maschinen, sondern nur mit der Hand und kleinen Werk-
zeugen gearbeitet wird. Vielen fehlen hier einfach das Wis-
sen und vor allem der Einstieg“, erläutert Robert Briechle.
Längerfristiges Ziel von Robert Briechle und der
Naturwert-Stiftung ist es, möglichst viele Landstücke nach
dem Permakulturprinzip zu bewirtschaften und somit Fa-
13 So kann im Kreis Chiemgau/Traunstein/Rosenheim mit dem „Chiemgauer“ bezahlt werden, von der Regionalen Wirtschaftsgemeinschaft
(ReWiG) München, Schlehdorf und Allgäu wurde der „Realo“ eingeführt, darüber hinaus kann man in Bayern in ausgewählten Geschäften
auch mit dem „Regio“ bezahlen.
14 Institut für Demoskopie Allensbach, Wirtschaftliches Verständnis und ordnungspolitische Positionen der Bevölkerung, 2012, S. 5.
15 Ebd., S. 52.
16 Name des Landstücks. Abgeleitet von „Paradies“: Briechle will darauf aufmerksam machen, dass diese Lebensform zwar eine Rückkehr ins
Paradies, also in das ursprüngliche Leben, darstellt, dies aber kein „Neben“-/„Para“-Raum sein soll, sondern Realität.
17 Mischkultur fördert die Pflanzengesundheit und vermindert den Schädlingsdruck.
209...,268,269,270,271,272,273,274,275,276,277 279,280,281,282,283,284
Powered by FlippingBook