Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 59

Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013
Einsichten und Perspektiven 3 | 13
195
oder die „Paneuropa“-Idee des Privatmanns Coudenhove-
Kalergi.
So stellt sich inzwischen die Frage, ob die Banken- und Fi-
nanzmarktkrise 2008/09 oder die Schuldenkrise 2010/11
ähnliche Folgen wie in den dreißiger Jahren, eine Gefähr-
dung des demokratischen Systems und einen Zusammen-
bruch der internationalen Ordnung also, nach sich ziehen
könnten. Längst hat eine Renationalisierung eingesetzt, mit
der sich Populisten – gleich welcher Couleur und unabhän-
gig von Regierung oder Opposition – „gegen Brüssel“ pro-
filieren. Dabei sind die Ursachen der Krisen gar nicht bei der
EU zu suchen. Die Finanzkrise haben risikofreudige Ban-
ker und ihre Aufsichtsräte zu verantworten. Die sogenann-
te „Eurokrise“ ist Ergebnis einer staatlichen Leistungsbi-
lanzdefizit- und Verschuldungskrise.
Konnte aus heilsamen Schocks der historischen
Krisen der Integrationsprozess profitieren, so ist dies nach
dem misslungenen Ringen um eine durchgreifende Reform
der EU-Institutionen nicht der Fall. Man ist versucht zu be-
haupten, dass die Banken-, Finanz- und Schuldenkrise gar
nicht so massiv ausgefallen sind, um die Bereitschaft der
EU-Mitgliedsstaaten zu einem wirklich neuen Integrati-
onsschub zu fördern. Es handelte sich auch nicht um eine
Depression wie in den dreißiger Jahren, sondern „nur“ um
eine Rezession. Dennoch gibt es ein Problemausmaß, das
das Krisenmanagement der EU übersteigt. Das gilt ebenso
für die Staaten, die ja deshalb auch den EU-Verbund ge-
schaffen haben. Was die Schuldenkrise aber so dramatisch
werden ließ, ist nicht Griechenland, welches 2,5 Prozent der
Eurozone ausmacht, sondern die Gefährdung des gesamten
Währungsverbundes und die daraus erwachsende Vertrau-
enskrise, zumal Portugal, Spanien und Italien auch sehr ho-
he Schuldenstände haben. Finanzausgleich, Kreditgewäh-
rung und Schuldenerlass sind dagegen nicht neu.
Bereits im Rahmen des Marshall-Plans war die seit
1947 schon vor der Bundesrepublik bestehende angloame-
rikanische Bizone Deutschlands Nettogläubiger imwesteu-
ropäischen Staatenverbund. Die zuletzt häufig als Notwen-
digkeit benannte „Transferunion“ ist von Anfang an fester
Bestandteil der Integrationsgeschichte. Konnte den EU-
Bürgern vonNettozahlern noch vermittelt werden, dass rei-
chere Volkswirtschaften mehr an ärmere zu geben haben, so
ist die Notwendigkeit, für bankrotte Euroländer zu bürgen
und zu haften, eine neue Dimension, die Kommunikations-
defizite und Strukturmängel der Solidargemeinschaft deut-
lich machte. Vom Wohl und Wehe Deutschlands und ande-
rer Zahler hängen der Fortbestand des Euro und die Wei-
terexistenz der EU ab. War Helmut Kohl in früherer Zeit
noch Verfechter eines europäischen Bundesstaates, so folg-
te in den neunziger Jahren die Einsicht in das Faktische: Mit
Blick auf die anstehende Großerweiterung von gerade erst
souverän gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas war
nur mehr eine europäische Konföderation denkbar. Kohls
Berater Horst Teltschik räumt rückblickend ein, dass man
es bei Begründung derWährungsunion versäumt habe, auch
eine Wirtschaftsunion zu schaffen – mit „man“ ist nicht die
EU gemeint. Es sind nach wie vor die Staats- und Regie-
rungschefs, die als „Herren der Verträge“ nicht über den ei-
gentlichen Endzweck der Union, also über die Finalität des
Integrationsprozesses, sprechen wollen. Die Einstimmig-
keit des Irrtums wirkt fatal. Monnet nannte nur den Weg als
Ziel aus Sorge, dass eine Debatte darüber Unfrieden stiften
würde. Eine Debatte über die Zukunft der Gemeinschaft
war damit ausgeklammert. Tatsächlich hattenwir es 2011/12
nicht mit einer Krise der EU oder des Euro zu tun, sondern
mit einer Krise der europäischen Staaten, verbunden mit
Demokratiemüdigkeit, Parteienverdrossenheit und Wäh-
lerrückgang. Die Verantwortung dafür wurde irrigerweise
der Union zugeschoben. Tatsächlich haben die Staaten bis
zuletzt der EU Mittel und Möglichkeiten vorenthalten, um
ein effizienteres Krisenmanagement zu entfalten. So ist auch
eine Troika in Kombination aus EU-Kommission, Euro-
päischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds
für die Kontrolle der Bürgschaften, Garantien und Kredit-
gewährungen in Athen zuständig. Das griechische Problem
ist freilich auch ein europäisches Problem der Nationalstaa-
ten, die weit über ihre Verhältnisse gelebt haben und nach
wie vor an ihren traditionellen Souveränitätsrechten fest-
halten. Es bedarf für supranationale Europapolitik der Exis-
tenz von Krisen und viel politischer Überzeugungskraft.
Politiker mit dieser Qualität waren Mangelware. Nur noch
die „Alten“ wie Helmut Schmidt, Jacques Delors und Valé-
ry Giscard d’Estaing erheben ihre Stimme in diesem Sinne.
Ihr Erbe droht verspielt zu werden, da die neue Politiker-
generation kaum mehr aus leidenschaftlichen Europäern
besteht.
In den Jahren 2010–2012 erfuhr die Staatsschul-
denkrise in Europa eine Zuspitzung. Es folgten „Rettungs-
pakete“ für die fast zahlungsunfähigen Eurostaaten Grie-
chenland (Mai 2010), Irland (November 2010) und Portu-
gal (Mai 2011). Die
European Financial Stability Facility
(EFSF) fungierte als eine Zweckgemeinschaft, die im Rah-
men des geplanten Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM) als Euro-Rettungsschirm im Juni 2010 gegründet
wurde. Die EFSF unterstützte finanziell in Not geratene
Mitgliedsstaaten der Eurozone. Die Notwendigkeit ergab
sich als Folge aus der Finanzkrise und den Mängeln des
Euro-Stabilitätspakts. Beteiligte der EFSF waren die Mit-
gliedsländer der Eurozone. Ab Juli 2011 setzte die Planung
eines dauerhaften Euro-Stabilisierungsfonds (ESF) für 2013
ein, nachdem sich ab Juni bis November 2011 die Staats-
schuldenlage verschärfte und sich zu einer Eurosystem-Kri-
se auswuchs. Auf dem EU-Krisengipfel in Brüssel vom
9. Dezember 2011 folgte der Grundsatzbeschluss zur Bil-
1...,49,50,51,52,53,54,55,56,57,58 60,61,62,63,64,65,66,67,68,69,...72
Powered by FlippingBook