Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 57

Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013
Einsichten und Perspektiven 3 | 13
193
Knapp am Scheitern vorbei: der Gipfel von
Nizza 2000
Vom französischen Ratspräsidenten Chirac als „histori-
scher Gipfel“ bezeichnet, fand in Nizza vom 6. bis 11. De-
zember 2000 nachMonaten der Ungewissheit über denWil-
len der Mitgliedsstaaten zur EU-Institutionenreform die
für die „EU-Osterweiterung“ wichtige Regierungskonfe-
renz statt. Unstimmigkeiten und Rivalitäten in den krisen-
geplagten deutsch-französischen Beziehungen und auch
zwischen den größeren und den kleinen Staaten spielten ei-
ne Rolle. Sie waren Teil des Gipfels, der das Instrumentari-
um für eine Neustrukturierung der EU schaffen sollte. Ob-
wohl dieser vieles schuldig blieb, entstand – so weit reichte
das rationale Handeln noch aus – ein neuer Vertrag, der den
Grundstein für Neuaufnahmen legte. Eine größere Krise
durch politisches Auseinanderdriften der Staaten wurde ge-
rade noch verhindert, indem Kompromisse gefunden wer-
den konnten, zumal es zur fortgesetzten Integration keine
Alternative zu geben schien. Der EU-Vertrag von Nizza
trat am 1. Februar 2003 in Kraft. Er regelte bis 2009 die
Machtverteilung, vor allem die alles entscheidenden Stim-
mengewichtungen der EU-Staaten, und die Kompetenzen
der EU, wobei bereits die künftigen Mitglieder berücksich-
tigt wurden. Ein Ausbau der Mehrheitsentscheidungen war
vorgesehen, wie auch die Sitze imEuropaparlament neu ver-
teilt wurden. Mit Nizza fand jedoch nicht die für die Auf-
nahme von zehn neuen Mitgliedern notwendige durchgrei-
fende Institutionenreform statt. Die alte Struktur mit Ge-
richtshof, Kommission, Rat, Parlament, Rechnungshof und
Wirtschafts- und Sozialausschuss blieb unangetastet. Ledig-
lich am Rande wurde eine Grundrechtscharta, ausgehend
vom „Herzog-Konvent“ (benannt nach dessen Vorsitzen-
dem, dem vormaligen deutschen Bundespräsidenten Ro-
man Herzog), feierlich verabschiedet, die allerdings noch
keine Rechtsgültigkeit besaß.
Die „EU-Verfassung“ und ihr Scheitern –
der Lissabon-Vertrag als rationaler Ausweg
Durch Einsetzung eines neuerlichen Konvents, der im We-
ge eines Konsensverfahrens zur Ausarbeitung einer „EU-
Verfassung“ führen sollte, war daran gedacht, die bestehen-
den Defizite der Institutionenreform zu beheben. Das war
gleichzeitig ein indirektes Eingeständnis für das Scheitern
der Methode der Regierungskonferenzen. Der Ära Kohl,
Delors und Mitterrand folgten keine starken europäischen
Führungspersönlichkeiten mehr in der nachfolgenden De-
kade. Fehlender Rückhalt in den eigenen Bevölkerungen,
knappe innenpolitische Mehrheitsverhältnisse, schwerwie-
gende Korruptionsfälle, erstarkende Renationalisierungs-
tendenzen, erhebliche Wirtschafts- und Wachstumskrisen
sowie ausbleibende Erfolge in der Arbeitsplatzsicherungs-
und Beschäftigungspolitik sowie Konkurrenzkämpfe im
Zeichen steigenden Globalisierungsdrucks, der sich in einer
Reaktion von neoliberaler Politik äußerte, beherrschten das
Bild in den europäischen Staaten im ersten Jahrzehnt des
21. Jahrhunderts. Der sich selbst so benennende „Verfas-
sungskonvent“ tagte bezeichnenderweise unter einem von
Elder Statesmen zusammengesetzten Präsidium (Valéry
Giscard d’Estaing, Giuliano Amato und Jean-Luc Dehaene)
in den Jahren 2002–2003 und erzielte immerhin einen sehr
respektablen Kompromiss. Der Einbeziehung besagter
Grundrechtscharta in den Vertrag, einer Vereinfachung und
Zusammenfassung der bisherigen Verträge, der Anerken-
nung der EU als eigener Rechtspersönlichkeit, mehr Mitbe-
stimmung für das Europäische Parlament sowie der Mög-
lichkeit eines europaweiten Referendums standen das
Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik, eine zweiein-
halbjährige Ratspräsidentschaft und keine wesentlichen
Vergemeinschaftungsfortschritte in der Sozial- und Wirt-
schaftspolitik gegenüber. Anhänger einer europäischen So-
zialcharta empfanden dies als enttäuschend. Die EU-Staats-
und -Regierungschefs rangen sich am 18. und 19. Juni 2004
schließlich doch dazu durch, den „Verfassungsvertrag“ zu
beschließen, was im Kontext des 1. Mai gleichen Jahres ge-
schah, als die Aufnahme von zehn neuen EU-Mitgliedern
(Estland, Polen, Lettland, Litauen, Malta, Tschechien, Slo-
wakei, Slowenien, Ungarn und Zypern) erfolgte. Das In-
krafttreten des Vertrages setzte die Zustimmung aller 25
Mitgliedsstaaten voraus. Die Debatte über den „Verfas-
sungsvertrag“ wurde jedoch überschattet von der Frage der
hohen Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern (25 Millionen),
der Diskussion über die Zuwanderung angeblich billiger
Arbeitskräfte aus demOsten Europas sowie von dem in der
öffentlichen und veröffentlichtenMeinung höchst strittigen
Beitrittskandidaten Türkei, mit dem offiziell am 1. Oktober
2005 Verhandlungen aufgenommen wurden.
Der Ratifikationsprozess des Verfassungsvertrages
verzögerte sich angesichts negativer Volksabstimmungen in
Frankreich am 29. Mai (54,87 Prozent votierten dagegen)
und den Niederlanden am 1. Juni 2005 (61,6 Prozent), so
dass dieser rein völkerrechtliche Vertrag, der gar keine Ver-
fassung im staatsrechtlichen Sinne darstellte, auf Eis gelegt
war. Die österreichischen und finnischen Ratspräsident-
schaften im Jahre 2006 konnten aus dem Stimmungstief her-
ausführen und ein Fallenlassen des Verfassungsvertrages
verhindern. Die deutsche Ratspräsidentschaft 2007 ver-
mochte die Substanz des „Verfassungsvertrages“ in einen
„Grund-“ und „Reformvertrag“ hinüberzuretten, der als
neuer Unionsvertrag von Lissabon im Dezember 2009 in
Kraft treten sollte. Trotz des Rückschlags mit dem „Verfas-
sungsvertrag“ bahnte sich mit Lissabon eine Lösung an, die
1...,47,48,49,50,51,52,53,54,55,56 58,59,60,61,62,63,64,65,66,67,...72
Powered by FlippingBook