Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 45

Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013
Einsichten und Perspektiven 3 | 13
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Voraussetzungen des europäischen
Einigungsprozesses
Exil in London, Niederlage, Besetzung und Kontrolle
Deutschlands 1939–1947
Während des Zweiten Weltkriegs war London der Flucht-
punkt der kontinentaleuropäischen Emigration, dort wur-
den Pläne entwickelt und Verträge geschlossen, die zur
Überwindung der Diktaturen der Achsenmächte in Europa
und zur Neuordnung der europäischen Staatenwelt beitra-
gen sollten. Die bekannteste Vereinbarung war der Vertrag
vom 5. September 1944 zwischen den Benelux-Staaten, der
1948 in eine Zoll-, Wirtschafts- und Währungsunion mün-
dete. Auf Initiative des Chefs der polnischen Exilregierung,
General Wladysław Sikorski (1881–1943), trafen sich polni-
sche, tschechoslowakische, norwegische, belgische, nieder-
ländische, luxemburgische, griechische und jugoslawische
Exilregierungen sowie das Komitee des „Freien Frank-
reich“ zu Beratungen. 1942 bestand zwischen ihnen Kon-
sens hinsichtlich der Einsicht in die Überholtheit des natio-
nalstaatlichen Prinzips, der Bereitschaft zur partiellen
Souveränitätsabgabe, der Schaffung innerer Souveränität
durch demokratische Verfassungen, der Unmöglichkeit der
Neustrukturierung eines föderierten Europa ohne Einbe-
ziehung der Sowjetunion und USA sowie der Erkenntnis,
dass Friedenssicherung kein rein europäisches, sondern ein
weltpolitisches Problem sei.
Während 1919/20 die europäischen Mächte in den
Vororten von Paris die Friedensverträge festgelegt hatten,
entschieden in Jalta und Potsdam 1945 bereits zwei außer-
europäische Mächte, die USA und die UdSSR – Europa war
nun definitiv zum Objekt geworden. Großbritannien war
nur mehr Juniorpartner der Vereinigten Staaten und sein
weltpolitischer Abstieg durch Niedergang und Zerfall des
Empire vorprogrammiert. Die USA lösten das Vereinigte
Königreich als globale Kolonialmacht ab. Die Absage an na-
tionalistische Weltmachtphantasien war die Basis für ein
schrittweise neu errichtetes institutionelles Einigungswerk
in Westeuropa. Angesichts der Präsenz der Roten Armee in
der Mitte und im Osten Europas schien rational betrachtet
nur ein Zusammenschluss westeuropäischer Staaten mög-
lich. Der Weg zurück zu einer Art westeuropäischen Selbst-
findung war zunächst nur mit der wirtschaftlichen und dann
militärischen Assistenz der USA möglich. Dass dies mit der
Hypothek der Teilung des Kontinents und der über ein hal-
bes Jahrhundert währenden gesellschaftlichen, ökonomi-
schen und politischen Abkoppelung Mittel- und Osteuro-
pas vom Kernraum der Integration verbunden war, wurde
in allen Dimensionen erst mit Blick auf die „EU-Osterwei-
terung“ deutlich. Die viel zitierten „Gründerväter“ Konrad
Adenauer, Alcide De Gasperi, Robert Schuman und Jean
Monnet hatten trotz aller christlich-abendländischen Rhe-
torik die Teilung Europas als Preis ihrer Westintegrations-
politik in Kauf genommen. Zunächst stand also Europas
Desintegration und Teilung vor der Einigung des Konti-
nents. Das geteilte Deutschland und Europa waren für Ade-
nauer, De Gasperi und Schuman stillschweigend akzeptier-
te Voraussetzung für das Gelingen der westeuropäischen
Integration. Das Scheitern der Münchner Ministerpräsiden-
tenkonferenz im Juni 1947 markierte bereits den Weg zur
innerdeutschen Teilung. Bayerns Ministerpräsident Hans
Ehard sagte zutreffend: „Dieser Vorgang bedeutet die Spal-
tung Deutschlands.“ Die Spaltung Deutschlands ging der
Teilung Europas voraus, wie später die Einigung Deutsch-
lands Voraussetzung für die politische Vereinigung des
Kontinents wurde.
Die Formationsphase der westeuropäi-
schen Integration 1947–1957
EuropäischesWiederaufbauprogramm als Renatio-
nalisierungschance 1947/48
Von 1948 bis 1958 konstituierten sich die ersten für die wei-
tere Entwicklung maßgeblichen westeuropäischen Institu-
tionen. Nach Ankündigung des
European Recovery Pro-
gram
(ERP) durch US-Außenminister George C. Marshall
am 5. Juni 1947, welches im Zeichen der
containment
-Stra-
tegie von Präsident Harry S. Truman gegenüber dem So-
wjetkommunismus stand, bildete sich am 16. April 1948 in
Paris die rein intergouvernementale
Organization for Euro-
pean Economic Cooperation
(OEEC), um Koordination,
Organisation, Verteilung und Kontrolle des ERP sowie die
Liberalisierung des Handels und Zahlungsverkehrs unter
17 westeuropäischen Staaten in Angriff zu nehmen: Die
OEEC sah weder nationale Souveränitätsabgabe vor, noch
war sie eine gesamteuropäische Organisation: Sie bildete ein
entscheidendes Präjudiz für die fortgesetzte Dominanz der
nationalen Regierungen in der europäischen Integration
und für die ökonomische Teilung Europas. Mit der Embar-
gopolitik gegenüber der Sowjetunion war die OEEC auch
Akteur des Kalten Krieges und Förderer der gesamteuro-
päischen Desintegration. Belgien, Dänemark, Frankreich,
Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, die
Niederlande, Norwegen, Luxemburg, Österreich, Portugal,
die Türkei, Schweden, die Schweiz und die drei deutschen
Westzonen, die spätere Bundesrepublik, waren ihre Mit-
streiter, lediglich assoziiert waren Jugoslawien, Kanada und
die USA. Häretisch hat der britische Wirtschaftshistoriker
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