Table of Contents Table of Contents
Previous Page  22 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 22 / 52 Next Page
Page Background

|22|

aviso 3 | 2016 A

NTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN

COLLOQUIUM

muss – so das Bundesverfassungsgericht – nach den Grund-

sätzen praktischer Vernunft ausgeschlossen sein, also für die

nächsten Jahrtausende, in denen der hochradioaktive Atom-

müll noch strahlt. Bisher ist die Suche nach einem atoma-

ren Endlager in Deutschland gescheitert: Morsleben wurde

1998 stillgelegt. Der kontaminierte Standort Asse II wurde

geschlossen und eine milliardenteure Rückholung radioak-

tiver Abfälle verfügt. Das rechtlich umstrittene Planfeststel-

lungverfahren »Schacht Konrad« ist nach 30 Jahren zwar

abgeschlossen, eine Lagerung radioaktiver Abfälle verzögert

sich jedoch weiterhin – vorläufig bis zum Jahr 2021. Wie es

danach weitergehen wird, ist ungewiss. Die Zwischen- und

Endlagerung radioaktiver Abfälle in Gorleben ist seit Jahr-

zehnten politisch umkämpft. Gerade der Fall »Gorleben«

deutet an, warum in Deutschland noch kein atomares End-

lager gefunden wurde: Grund waren und sind nicht nur tech-

nische Risiko- und Sicherheitsfragen, sondern vor allem der

Widerstand von Teilen der Bevölkerung gegen die friedliche

Nutzung der Kernenergie und ihre Abfälle. Die bürgerkriegs-

artigen Auseinandersetzungen um Brokdorf, Kalkar, Wa-

ckersdorf und Gorleben haben die politische Mentalitätsge-

schichte der Bundesrepublik tief geprägt: Sie richteten sich

nicht nur gegen Atomkraft und Atommüll, sondern auch

gegen den »Atomstaat« (Robert Jungk), der mit der Kern-

energie identifiziert wurde. Soweit sich Bürgerinnen und

Bürger mit Rechtsschutzansuchen gegen die Planung von

atomaren Endlagern an die Gerichte wandten, hatten sie

im Ergebnis letztlich keinen Erfolg. Nach der höchstrichter-

lichen Rechtsprechung haben sie hinsichtlich ihres Grund-

rechts auf Leben und Gesundheit noch nicht einmal einen

subjektiven Anspruch auf »Restrisikominimierung«. Da-

rüber hinaus wertete das Bundesverfassungsgericht in sei-

ner Entscheidung zu »Schacht Konrad« die nichtrückhol-

bare Endlagerung von hochradioaktivem Abfall gerade als

»unseren« Beitrag, kommenden Generationen keine unzu-

mutbaren atomaren Erblasten zu hinterlassen – als sei das

Strahlungsproblem durch die nicht rückholbare Endlagerung

für künftige Generationen erledigt. Darüber hinaus hat das

Oberverwaltungsgericht Niedersachsen über den prozessu-

alen Schutz von gegenwärtigen und künftigen Generationen

vor der Bedrohung durch hochradioaktiven Atommüll ent-

schieden: Die Kläger – Eigentümer und Pächter eines land-

wirtschaftlichen Familienbetriebs – seien selbst durch die

atomaren Langzeitrisiken von mehreren hunderttausend

Jahren nicht (mehr) betroffen. Darüber hinaus könnten die

Kläger die Interessen ihrer Nachkommen nicht gerichtlich

geltend machen, da sie nicht darlegen könnten, dass sich

ihre eigenen Nachkommen in tausenden von Jahren noch

am aktuellen klägerischen Wohnort aufhalten würden. So

lässt sich nur festhalten: Auf diese Weise kann das Recht zur

Lösung einer der zentralen Zukunftsfragen des Anthropo-

zäns nichts Nennenswertes beizutragen.

DIES WILL DAS

»Gesetz zur Suche und Auswahl eines Stand-

ortes für ein Endlager fürWärme entwickelnde radioaktive Ab-

fälle« (Standortauswahlgesetz – StandAG) vom 23. Juli 2013

ändern. Für hoch radioaktive Abfälle soll in einem wissen-

schaftsbasierten und transparenten Verfahren ein Standort

für die Endlagerung gefunden werden, »der die bestmög-

liche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jah-

ren gewährleistet« (§ 1 StandAG). Doch nicht nur in die-

ser anthropozänen Zeitdimension liegt das Besondere des

Standortauswahlgesetzes. Sein Regelungsansatz verfolgt

insbesondere ein Ziel: Nicht mehr die Politik, sondern die

Gesellschaft soll die Standortentscheidung treffen. Dies setzt

das Standortauswahlgesetz in zwei Schritten um: erstens

in einem Standortkriterienverfahren und zweitens in dem

eigentlichen Standortauswahlverfahren.

IN DEM STANDORTKRITERIENVERFAHREN

soll zunächst

die »Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe«

die geowissenschaftlichen, sicherheits- und umweltbezo-

genen sowie verfahrens- und organisationsrechtlichen Kri-

terien für die Suche nach atomaren Endlagern entwickeln.

Der Auftrag der Kommission geht aber noch weiter: Wenn

die Kommission der Auffassung ist, dass das ganze Stand-

ortauswahlgesetz selbst nichts taugt, kann sie dem Bundes-

tag Regelungsalternativen empfehlen (§ 4 StandAG). Dies

stellt eine nicht unbeachtliche Neuerung dar – der Gesetzge-

ber dankt ab: »Sagt uns, was Ihr im Standortauswahlgesetz

stehen haben wollt, und wir schreiben es Euch hinein!« Der

Standortauswahlkommission gehören – neben der/demVor-

sitzenden – Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft

(8), der Umweltverbände (2), der Religionsgemeinschaften

(2), der Wirtschaft (2), der Gewerkschaften (2) sowie Mitglie-

der des Bundestages (8) und der Landesregierungen (8) an.

Die Kommission soll ihren Bericht möglichst im Konsens,

mindestens aber mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen,

wobei jedoch nur die wissenschaftlichen, umweltpolitischen,

religiösen, wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen, nicht

aber die politischen Vertreterinnen und Vertreter über ein

Stimmrecht verfügen (§ 3 StandAG). Nun ist es in der Staats-

und Verwaltungspraxis nichts Ungewöhnliches, dass exter-

ner Sachverstand oder gesellschaftliche Interessengruppen

bei der Besetzung pluralistischer Entscheidungsgremien

berücksichtigt werden. Der vorliegende Fall der Endlagerung

atomarer Abfälle liegt aber anders. Sicherlich ließe sich die

Kompetenzfrage stellen: Welchen Sachverstand bringen zum

Beispiel die Sozialpartner in eine Kommission für die ato-

mare Endlagerung für eine Million Jahre ein? Doch gerade

dies weist nur darauf hin, dass es dem Standortauswahlge-

setz jedenfalls nicht allein um eine wissensbasierte Fundie-

rung der atomaren Standortsuche geht. Vielmehr soll die

Verantwortung für den Atommüll vom Staat auf die Gesell-

schaft verschoben werden. Dies kommt in zwei verfahrens-

rechtlichen Aspekten zum Ausdruck: Zunächst werden in

der Kommissionsarbeit wissenschaftliche, ökologische, wirt-

schaftliche, soziale, religiöse und politische Dimensionen der

Atommüllentsorgung vermischt. Sodann werden die Kom-

missionempfehlungen »privatisiert«: Die Vertreterinnen und

Vertreter des Bundestages und der Landesregierungen sollen

zwar mitberaten, aber nicht mitentscheiden. Damit wird die

Verantwortung für die atomare »Entsorgung« von der Politik

auf die vier Säulen der Industriegesellschaft verschoben, die

© dpa/picture alliance (Fotograf: Uli Deck)