29
Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
gewährleisten. Der ineffiziente Agrarsektor entwickelte
sich immer mehr zu einem Fass ohne Boden und damit
zur Achillesferse der Sowjetwirtschaft.
39
Angesichts der evidenten Strukturschwächen der Sow-
jetwirtschaft bezeichnete Helmut Schmidt, damals bun-
desdeutscher Kanzler, die Sowjetunion schon 1978 als
„Obervolta mit Raketen“. Damit unterstrich Schmidt, dass
sich die sozialistische Supermacht mit ihrem gigantischen
militärisch-industriellen Komplex und den hohen Aufwen-
dungen für den fortgesetzten Rüstungswettlauf zunehmend
in den Modus der Überanstrengung begeben hatte.
40
Der
Moskauer Partei- und Staatsführung gingen zwar wieder-
holt Alarmberichte zu, in denen Experten die schleichende
Ermüdung der Sowjetwirtschaft in eindringlicher Klarheit
thematisierten und entschiedene Veränderungen einforder-
ten.
41
Die greisen Kremlbosse zogen es aber vor, die drän-
genden Probleme der Zeit unter den Teppich zu kehren,
statt sie durch entschiedene Maßnahmen anzugehen. Sie
bereiteten dem sowjetischen
business as usual
kein Ende,
sodass weiter Ressourcen fahrlässig verschwendet und Ent-
wicklungschancen leichtsinnig verspielt wurden.
Als Gorbatschow in den Kreml einzog, war die Wirt-
schaftsbilanz seiner Vorgänger längst ins Negative gekippt.
Die Sowjetunion hatte ihren technik- und wirtschafts-
geschichtlichen Scheitelpunkt überschritten. Auch die
Stimmung im Land hatte sich seit Ende der 1970er Jahre
angesichts länger werdender Schlangen und sich leerender
Regale in den Geschäften verschlechtert. Der ausschließ-
lich rohstofforientierte Außenhandel fungierte als Notna-
gel, an dem das Schicksal der Sowjetunion hing. Das schuf
wirtschaftliche Verwundbarkeiten, die mit dem Amtsan-
tritt Gorbatschow immer spürbarer wurden.
42
Gegenüber
dem enormen Preisanstieg bis zu Beginn der 1980er Jahre
sank der Ölpreis nach 1985 auf nur noch ein Drittel der
vorherigen Höchstmarke. Zugleich halbierte sich der Gas-
preis in der Zeit von 1985 bis 1990.
43
39 Linda J. Cook: The Soviet Social Contract and Why It Failed. Welfare Policy
and Workers’ Politics from Brezhnev to Yeltsin, London 1993, S. 58–67.
40 Edwin Bacon/Mark Sandle: Brezhnev Reconsidered, in: (Hg.), Brezhnev
Reconsidered, Houndmills/Basingstoke 2002, S. 203–217, hier S. 211 f.
41 Michael Ellman/Vladimir Kontorovich: The Collapse of the Soviet System
and the Memoir Literature, in: Europe-Asia Studies 49 (1997), S. 259–
279, hier S. 260.
42 Klaus Gestwa: Von der Stagnation zur Perestrojka. Der Wandel der Be-
drohungskommunikation und das Ende der Sowjetunion, in: Boris Belge/
Martin Deuerlein (Hg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven
auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 253–311,
S. 261–282.
43 Yegor Gaidar: Russia. A Long View, Cambridge/Mass. 2012, S. 193 f.
Die für Moskau sehr ungünstige Entwicklung der Außen-
handelsverhältnisse erschwerte es aufgrund sinkender
Deviseneinnahmen, den ins Stocken geratenen ökonomi-
schen Wachstumsmotor wieder in Schwung zu bringen.
Die Sowjetunion musste sich im Westen immer mehr
verschulden.
44
Als wichtige Faktoren der Strukturge-
schichte der internationalen Beziehungen erklärten diese
ökonomischen Schwächen und Abhängigkeiten, warum
Gorbatschow mit seinen Friedensinitiativen auf die zügige
Beendigung des Kalten Kriegs drängte. Es ging darum, die
Konversion der hypertrophen Rüstungsindustrie endlich
anzugehen. Zudem sollte die bereitwillige Entlassung der
ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten aus demMoskauer
Machtorbit die imperiale Überdehnung
(imperial over-
stretch)
beenden. Dem Kreml fehlten einfach die Mittel,
um die anderen sozialistischen Länder weiter ökonomisch
zu unterstützen, die sich wegen ihrer rasant steigenden
Auslandsverschuldung schon damals an der Grenze zur
Zahlungsunfähigkeit befanden.
45
Der sowjetische Histo-
riker und Dissident Michail Heller verglich Gorbatschow
darum mit einem Ballonfahrer, „der, als er entdeckte, dass
der Ballon sank, alles über Bord warf, was er in seinem
Korb finden konnte.“
46
Uskorenie
und der Super-GAU in Tschernobyl,
1985–1986
Die von den reduzierten Hilfsmaßnahmen und Rüstungs-
lasten ausgehenden positiven Effekte erreichten die sowje-
tische Volkswirtschaft jedoch erst mit Verspätung. Deshalb
kam die Regierung bei ihrem Bemühen, die lähmende
Wachstumshemmung zu überwinden, nicht umhin, den
ökonomischen Bereich mit Reformen durch- und wach-
zurütteln. Zu Beginn seiner Amtszeit setzte Gorbatschow
seine Hoffnungen zuerst ganz auf ein strukturkonservatives
Programm. Unter dem wohlklingenden Slogan
Uskorenie
(Beschleunigung) zielte es darauf, mit neuen Investitionen
den technologischen Fortschritt wieder anzukurbeln und
noch verfügbare Entwicklungspotentiale innerhalb der
administrativen Kommandowirtschaft freizusetzen, um
so die sowjetische Industrie wieder konkurrenzfähig zu
machen. Trotz aller Mittelkonzentration und Anstrengun-
gen konnte der technologische Rückstand nicht merklich
verkürzt werden. In der zukunftsträchtigen Computer-
44 Zwischen 1984 und 1991 verdreifachten sich die sowjetischen Auslands-
schulden auf schließlich über 80 Mrd. US-Dollar. Vgl. ebd
.
, S. 196.
45 Vgl. Memorandum an Michail Gorbatschow im Oktober 1988 in Karner
(wie Anm. 13), S. 222–225.
46 Zubok (wie Anm. 7), S. 334.