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Von der Perestroika zur Katastroika

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

gewährleisten. Der ineffiziente Agrarsektor entwickelte

sich immer mehr zu einem Fass ohne Boden und damit

zur Achillesferse der Sowjetwirtschaft. 

39

Angesichts der evidenten Strukturschwächen der Sow-

jetwirtschaft bezeichnete Helmut Schmidt, damals bun-

desdeutscher Kanzler, die Sowjetunion schon 1978 als

„Obervolta mit Raketen“. Damit unterstrich Schmidt, dass

sich die sozialistische Supermacht mit ihrem gigantischen

militärisch-industriellen Komplex und den hohen Aufwen-

dungen für den fortgesetzten Rüstungswettlauf zunehmend

in den Modus der Überanstrengung begeben hatte. 

40

Der

Moskauer Partei- und Staatsführung gingen zwar wieder-

holt Alarmberichte zu, in denen Experten die schleichende

Ermüdung der Sowjetwirtschaft in eindringlicher Klarheit

thematisierten und entschiedene Veränderungen einforder-

ten. 

41

Die greisen Kremlbosse zogen es aber vor, die drän-

genden Probleme der Zeit unter den Teppich zu kehren,

statt sie durch entschiedene Maßnahmen anzugehen. Sie

bereiteten dem sowjetischen

business as usual

kein Ende,

sodass weiter Ressourcen fahrlässig verschwendet und Ent-

wicklungschancen leichtsinnig verspielt wurden.

Als Gorbatschow in den Kreml einzog, war die Wirt-

schaftsbilanz seiner Vorgänger längst ins Negative gekippt.

Die Sowjetunion hatte ihren technik- und wirtschafts-

geschichtlichen Scheitelpunkt überschritten. Auch die

Stimmung im Land hatte sich seit Ende der 1970er Jahre

angesichts länger werdender Schlangen und sich leerender

Regale in den Geschäften verschlechtert. Der ausschließ-

lich rohstofforientierte Außenhandel fungierte als Notna-

gel, an dem das Schicksal der Sowjetunion hing. Das schuf

wirtschaftliche Verwundbarkeiten, die mit dem Amtsan-

tritt Gorbatschow immer spürbarer wurden. 

42

Gegenüber

dem enormen Preisanstieg bis zu Beginn der 1980er Jahre

sank der Ölpreis nach 1985 auf nur noch ein Drittel der

vorherigen Höchstmarke. Zugleich halbierte sich der Gas-

preis in der Zeit von 1985 bis 1990. 

43

39 Linda J. Cook: The Soviet Social Contract and Why It Failed. Welfare Policy

and Workers’ Politics from Brezhnev to Yeltsin, London 1993, S. 58–67.

40 Edwin Bacon/Mark Sandle: Brezhnev Reconsidered, in: (Hg.), Brezhnev

Reconsidered, Houndmills/Basingstoke 2002, S. 203–217, hier S. 211 f.

41 Michael Ellman/Vladimir Kontorovich: The Collapse of the Soviet System

and the Memoir Literature, in: Europe-Asia Studies 49 (1997), S. 259–

279, hier S. 260.

42 Klaus Gestwa: Von der Stagnation zur Perestrojka. Der Wandel der Be-

drohungskommunikation und das Ende der Sowjetunion, in: Boris Belge/

Martin Deuerlein (Hg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven

auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 253–311,

S. 261–282.

43 Yegor Gaidar: Russia. A Long View, Cambridge/Mass. 2012, S. 193 f.

Die für Moskau sehr ungünstige Entwicklung der Außen-

handelsverhältnisse erschwerte es aufgrund sinkender

Deviseneinnahmen, den ins Stocken geratenen ökonomi-

schen Wachstumsmotor wieder in Schwung zu bringen.

Die Sowjetunion musste sich im Westen immer mehr

verschulden. 

44

Als wichtige Faktoren der Strukturge-

schichte der internationalen Beziehungen erklärten diese

ökonomischen Schwächen und Abhängigkeiten, warum

Gorbatschow mit seinen Friedensinitiativen auf die zügige

Beendigung des Kalten Kriegs drängte. Es ging darum, die

Konversion der hypertrophen Rüstungsindustrie endlich

anzugehen. Zudem sollte die bereitwillige Entlassung der

ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten aus demMoskauer

Machtorbit die imperiale Überdehnung

(imperial over-

stretch)

beenden. Dem Kreml fehlten einfach die Mittel,

um die anderen sozialistischen Länder weiter ökonomisch

zu unterstützen, die sich wegen ihrer rasant steigenden

Auslandsverschuldung schon damals an der Grenze zur

Zahlungsunfähigkeit befanden. 

45

Der sowjetische Histo-

riker und Dissident Michail Heller verglich Gorbatschow

darum mit einem Ballonfahrer, „der, als er entdeckte, dass

der Ballon sank, alles über Bord warf, was er in seinem

Korb finden konnte.“ 

46

Uskorenie

und der Super-GAU in Tschernobyl,

1985–1986

Die von den reduzierten Hilfsmaßnahmen und Rüstungs-

lasten ausgehenden positiven Effekte erreichten die sowje-

tische Volkswirtschaft jedoch erst mit Verspätung. Deshalb

kam die Regierung bei ihrem Bemühen, die lähmende

Wachstumshemmung zu überwinden, nicht umhin, den

ökonomischen Bereich mit Reformen durch- und wach-

zurütteln. Zu Beginn seiner Amtszeit setzte Gorbatschow

seine Hoffnungen zuerst ganz auf ein strukturkonservatives

Programm. Unter dem wohlklingenden Slogan

Uskorenie

(Beschleunigung) zielte es darauf, mit neuen Investitionen

den technologischen Fortschritt wieder anzukurbeln und

noch verfügbare Entwicklungspotentiale innerhalb der

administrativen Kommandowirtschaft freizusetzen, um

so die sowjetische Industrie wieder konkurrenzfähig zu

machen. Trotz aller Mittelkonzentration und Anstrengun-

gen konnte der technologische Rückstand nicht merklich

verkürzt werden. In der zukunftsträchtigen Computer-

44 Zwischen 1984 und 1991 verdreifachten sich die sowjetischen Auslands-

schulden auf schließlich über 80 Mrd. US-Dollar. Vgl. ebd

.

, S. 196.

45 Vgl. Memorandum an Michail Gorbatschow im Oktober 1988 in Karner

(wie Anm. 13), S. 222–225.

46 Zubok (wie Anm. 7), S. 334.