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Katar: Im Anfang war das Öl
Einsichten und Perspektiven 3 | 15
tem des Landes basiert auf diesem Gefälle. Das Emirat gilt
mit seinem Pro-Kopf-Einkommen von rund 100.000 US-
Dollar im Jahr als „reichstes Land der Welt“. Als „Köpfe“
werden in dieser Rechnung eigentlich alle Einwohner
eines Staates gezählt, in Katar gilt dieser Reichtum freilich
nur für die eigenen Staatsbürger.
Das zeigt sich zum Beispiel auch am sozialen Sicherungs-
system des Landes. Während Katar seinen Bürgern umfang-
reiche soziale Leistungen garantiert, fallen die Gastarbeiter
durch das Raster. Für deren grundlegende Gesundheits-
versorgung sorgen zwar vertragsbedingt meist die Arbeit-
geber, doch die Probleme beginnen spätestens dann, wenn
die Arbeiter in ihre Heimatländer zurückkehren: Sie haben
keinen Rentenanspruch aus Katar und auch in ihrer Hei-
mat haben sie nicht in das Versicherungssystem für den
Ruhestand oder die Krankenversorgung eingezahlt.
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Häu-
fig schicken die Arbeitgeber in Katar ihre Arbeiter zurück,
wenn sie krank werden; Verträge werden nicht verlängert.
Bilaterale Abkommen gibt es bisher nur zwischen den ein-
zelnen Golfstaaten, nicht aber für die ostasiatischen Länder:
Saudis, die zum Beispiel in Kuwait arbeiten, zahlen dort
Abgaben für das saudische System. Wenn sie dann zurück-
kehren, gibt es keine Einzahlungsunterbrechung.
Am Nachhaltigkeitsgedanken mangelt es in Katar aber
auch im Umgang mit den eigenen Staatsbürgern. Wer, wie
viele Katarer, spät zu arbeiten beginnt, im Alter von 45
Jahren in Rente geht und diese über Jahrzehnte bezieht,
kann schwerlich als Stütze eines Rentensystems angesehen
werden. Dazu kommt eine lange Kette an Verantwortlich-
keit, etwa bei der Witwenrente. In Katar ist der Alters-
unterschied zwischen Ehemann und Ehefrau traditionell
oftmals sehr groß. 50-jährige Männer heiraten nicht sel-
ten 20-jährige Frauen. Dazu ist die Vielehe erlaubt. Stirbt
der Ehemann, haben alle Ehefrauen, die in den seltensten
Fällen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, lebenslänglichen
Anspruch auf Witwenrente.
Das großzügige soziale Sicherungssystem ist in Katar
staatlich organisiert, der private Sektor hat kaum eine
Chance. Der Staat gibt seinen Bürgern alles, was sie brau-
chen: Sie zahlen zum Beispiel keine Steuern. Medizinische
Versorgung steht kostenlos zur Verfügung. Auch Strom
gibt es umsonst. Nicht zuletzt deshalb ist Doha nachts
eine der am hellsten leuchtenden Städte der Welt. Was
im Überfluss und unentgeltlich vorhanden ist, wird nicht
geschätzt.
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Dasselbe gilt für den Umgang der Katarer
mit dem kostenlosen Wasser, das in der Region eigentlich
Mangelware ist.
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Da finanzielle Schwierigkeiten im Zeit-
alter des Erdöls am Golf ein Fremdwort sind, kann man
es sich leisten. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Es
fehlt der Druck für eine Demokratisierung des Landes.
Der Staat gibt, der Staat entscheidet – ein Dilemma, das
die Golfstaaten teilen und das auf Katar in ganz besonde-
rem Maße zutrifft. Wer zahlt, bestimmt auch die Regeln.
Der australische Politikwissenschaftler John Keane bezieht
sich nicht explizit auf Katar, wenn er über den Charakter
der „neuen Despotien“ schreibt, aber er bringt die Situa-
tion doch auf den Punkt: „Fast wirkt es, als bestünde […]
ein stummer oder ungeschriebener oder stillschweigender
Vertrag zwischen den Regierungsinstanzen und der unter-
worfenen Bevölkerung. Die Losung heißt ‚Wir herrschen
und stellen euch im Gegenzug für stille Loyalität Güter
zur Verfügung‘.“
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Der Staat Katar wird als absolute Monarchie regiert. Der
jetzige Emir Tamim bin Hamad Al Thani löste seinen Vater
Hamad ibn Khalifa im Juni 2013 im Amt ab, der damit
zum ersten Regenten am Golf avancierte, der seine Macht
freiwillig und ohne Blut zu vergießen, abgegeben hat. Die
heute gültige Verfassung
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trat 2004 in Kraft und wird als
„demokratisch“ bezeichnet; als Quelle der Staatsgewalt wird
das Volk aufgeführt, dabei ist der Emir als Staatsoberhaupt
zugleich Chef der Exekutiv- und der Legislativgewalt. Auch
die Regierung ist allein ihm verantwortlich, es gibt weder
ein Parlament noch eine Parteistruktur. Die Judikative ist
gespalten: Es existieren Gerichte für religiöse Fragen und
weltliche Gerichte, die „im Namen des Emirs“ urteilen. Als
einziges Element mit scheinbar pluralistischem Charakter
dient die
Madschlis asch-Schura
, eine beratende Versamm-
lung mit 35 Mitgliedern. Die sollen eigentlich zu zwei
14 Die massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften stellt umgekehrt auch
ein Problem für die ostasiatischen Länder dar, die oftmals ohnehin mit
einer alternden Bevölkerung und schrumpfender Arbeitskraft zu kämpfen
haben. Vgl. Surak (wie Anm. 3), S. 1031.
15 Laut Weltbank ist Katar auch das Land mit dem weltweit höchsten pro-
Kopf-CO
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-Ausstoß: Im Durchschnitt verursacht jeder Einwohner des
Emirats pro Jahr 44 Tonnen Kohlenstoffdioxid. Zum Vergleich: Ein Bür-
ger Deutschlands kommt auf 9 Tonnen (Information online: http://data.
worldbank.org/indicator/EN.ATM.CO2E.PC) [Stand: 17.09.2015]. Bezeich-
nenderweise diskutierte und scheiterte die UN-Klimakonferenz im Jahr
2012 in Doha.
16 Katar gehört zu den trockensten und unfruchtbarsten Regionen der Erde,
es besteht zum größten Teil aus Geröll- und Kieswüste. Das Grundwasser
in Katar hat zudem einen sehr hohen Salzgehalt, weshalb Trinkwasser aus
Entsalzungsanlagen gewonnen werden muss.
17 John Keane: Die neuen Despotien. Vorstellungen vom Ende der Demokra-
tie, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 790,
März 2015, 69. Jg., S. 18–31, hier S. 19.
18 Eine englische Version der Verfassung findet sich auf einer vom katari-
schen Staat betriebenen Homepage:
http://www.almeezan.qa/LawPage.aspx?id=2284&language=en. [Stand: 17.09.2015]