Die
Grundschule
ist keine Buch·
und Sitzschule
Fortsetzung von Seite 7
lebte er in unserer Gemeinde.
Sein stattliches Anwesen haben
wir vorhin gesehen, gleich ne–
ben dem Rathaus ."
Gespannt folgen die Mäd–
chen und Buben der Erzählung
des Lehrers. Nichts Ungewöhn–
liches. Ungewöhnlich ist nur
der Ort des Unterrichts: Der al–
te Judenfriedhof von Uehlfeld
in Mittelfranken.
Die Blicke der Grundschüler
schweifen über Grabsteine und
Inschriften . Seltsame Zeichen
geben den Kleinen Rätsel auf.
Finger gehen hoch, Fragen be–
drängen den Lehrer. Geduldig
geht er auf alles ein .
Er erzählt den Schülern, daß
sie sich auf einem besonderen
Friedhof befinden . Nur jüdi–
sche Mitbürger sind hier begra–
ben. 250 Jahre, acht Generatio–
nen lang, lebten Juden in Uehl–
feld. Sie hatten ihre eigene
Schule, eigene Lehrer, eine
Synagoge und den Rabbi.
Ein Schüler fragt : "Warum
wird der Friedhof nicht mehr
benützt?" Betroffen hören die
Kinder die Antwort. Das Ende
der jüdischen Gemeinde im
Jahre 1938 wird nicht beschö–
nigt oder verschwiegen. Still
verläßt die Klasse den Friedhof
und macht sich auf den Weg
zurück zur Schule.
Erkundungsgänge dieser Art
sind ein fester Bestandteil des
Unterrichts. Heute mehr denn
je. Der neue Lehrplan für die
bayerischen Grundschulen, in
Kraft seit 1. August 1982, stellt
nämlich den Heimatraum in
den Mittelpunkt.
Wo immer möglich sollen
die Kinder von der eigenen Er–
fahrung, von Begegnungen vor
Ort zum Nachdenken und Ler–
nen geführt werden. Gemeinsa-
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mes Erkunden, Entdecken und
Beobachten sind da unverzicht–
bar.
Post und Tankstelle, Bäckerei
oder Bauernhof, altes Stadttor
und ein verlassener Friedhof
werden zum Lernort. " Drau–
ßen" läßt sich vieles besser be–
greifen als im Klassenzimmer.
Kinder sammeln Blätter, be–
stimmen Blumen, lernen Stei–
ne, Pilze und Bäume kennen .
Sie beobachten das Wetter, den
Tagesablauf und die Jahreszei–
ten, orientieren sich nach den
Himmelsrichtungen.
Aber nicht nur das Tor zur
Natur öffnet sich ihnen . Ebenso
erschließen sich Brauchtum,
Arbeitswelt, Geschichte und
soziale Gemeinschaft, in der
sie aufwachsen. Ein Heimat–
und Sachkundeunterricht, der
nur Merkstoff und Wissen an–
häuft, hätte allerdings seinen
Sinn verfehlt. ln diesen Stunden
geht es um mehr. Ziel ist es,
eine persönliche Bindung zu
wecken, die Liebe zur Heimat,
die ein Leben lang halten soll.
Aber nicht nur das Fach Hei–
mat- und Sachkunde, sondern
auch den Deutschunterricht hat
der neue Lehrplan verändert.
Die dritte und vierte Jahrgangs–
stufe erhält künftig eine Stunde
mehr Zeit für die Mutterspra–
che, insgesamt 7 Stunden pro
Woche. Weil der Lehrstoff
gleichgeblieben
ist,
bleibt
künftig mehr Platz zum Üben
der Rechtschrift Das kommt
vor allem den 1000 Wörtern
des "Grundwortschatzes" zu–
gute.
Die lateinischen Buchstaben
mit ihren schwierigen Rundfor–
men und Verbindungen lernen
die Abc-Schützen künftig nicht
mehr an erster Stelle. Der
Schreibunterricht beginnt nun
mit den für ungeübte Hände
einfacheren Druckbuchstaben .
Erst später folgt die lateinische
Schreibschrift.
Und wie wird künftig das Le–
sen gelernt? Mit dem altbe–
währten Buchstabieren oder
mit der später bevorzugten
"Ganzwort-Methode" ?
Der
neue Grundschullehrplan läßt
dem Lehrer hier weitgehend
freie Hand. Er kann von Lauten,
Wörtern oder Sätzen ausgehen .
Aber keines der drei Sprachele–
mente darf beim Lesenlernen
zu kurz kommen .
Und noch eine wichtige
Neuerung im Fach Deutsch :
Der Grammatikunterricht ver–
zichtet auf abstraktes Regelwis–
sen und die gefürchteten latei–
nischen Fachausdrücke. Sub–
stantiv, Prädikat, Akkusativ und
Erkunden
und
Beobachten
Besichtigungsgänge
und Lehrwanderun–
gen werden in der
Grundschule heute
ganz groß geschrie–
ben. Was der unkundi–
ge Betrachter viel–
leicht für Spazier- und
Müßiggang halten
mag, ist in Wirklichkeit
Unterricht vor Ort. Aus
dem Kennenlernen der
Heimat wächst die Lie–
be der Kinder zu ihr.