ls ich einmal Video-Aufzeichnungen von ty-
pisch deutschen Mathematikstunden sah“, er-
zählt Lehrer Franz Anneser, „war ich entsetzt.
Ich erkannte mich in großen Teilen wieder.
Obwohl der Unterricht gut geplant war, be-
teiligten sich aktiv nur wenige Schüler, der Rest bekam
kaum etwas mit.“
Die Mehrzahl der deutschen Schüler, so die Rück-
schlüsse aus Studien wie TIMSS und PISA, tut sich nicht
nur schwer, ein neues mathematisches Problem zu erfas-
sen. Viele haben auch den Stoff, den sie sich schließlich
durch intensives Üben aneignen, schon kurz nach der
Schulaufgabe wieder vergessen. Um diese in Deutsch-
land weit verbreiteten „Krankheiten“ zu kurieren, wurde
von Bund und Ländern das Programm
SINUS gestartet –
Steigerung der Effizienz
des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichts
.
Die Schulen, die am SINUS-Programm
teilnehmen, erproben moderne Unter-
richtsmethoden und tauschen sich regel-
mäßig darüber aus. So kann jede Lehrkraft
nach und nach ihren eigenen Unterricht
optimieren. Auch Franz Anneser, Mathe-
matiklehrer an der Herzog-Tassilo-Real-
schule im niederbayerischen Dingolfing,
nahm an SINUS teil. Nach etlichen Fortbil-
dungen und intensiven Gesprächen mit
Kollegen stellte er seinen Unterricht um.
Der Schwerpunkt liegt jetzt auf dem ei-
genständigen Denken der Schüler. „Wenn
wir einen neuen Stoff durchnehmen“, so
der Dingolfinger Lehrer, „erhalten die
Schüler von mir zunächst einen Arbeitsauf-
trag. An dem versuchen sie sich eine ganze
Weile allein. Die eigenen Ideen, Zeichnun-
gen, Berechnungen und auch die Fragen,
die auftauchen, schreibt jeder Schüler
nieder.“
Nach dieser „Ich-Phase“, in der sich jeder Schüler
selbst den Kopf zerbricht, folgt die „Du-Phase“. Die
Schüler suchen sich einen Partner oder diskutieren das
Problem in Gruppen. Sie können sich mit ihren Fragen
auch an den Lehrer wenden oder daheim die Eltern zu
Rate ziehen. Auch jetzt werden die Erkenntnisse und Lö-
sungswege im persönlichen „Lerntagebuch“ festgehal-
ten. Danach geht der Lehrer die gesammelten Schüler-
hefte zu Hause durch und erfährt so, was bereits
verstanden wurde und wo es noch hakt. Er versieht die
Arbeiten mit einer kurzen Rückmeldung, damit die
Schüler wissen, wo sie stehen.
Erst wenn die Schüler einzeln und im Dialog das ma-
thematische Problem von allen Seiten gründlich durch-
dacht haben, folgt die so genannte „Wir-Phase“. Sie ent-
spricht einer klassischen Mathematikstunde: Der Lehrer
fasst mit der Klasse das Problem und die Musterlösung
in einem Hefteintrag abschließend zusammen. „Das geht
in der Regel sehr schnell“, erklärt Franz Anneser, „denn
die Schüler haben ja mit allen Problemen und Fragen,
die auftreten können, schon gekämpft.“
Begleiten wir Lehrer Anneser einen Vormittag lang in
der Dingolfinger Realschule. Geometrie, 8. Klasse: In
Zweiergruppen knobeln die Schüler, wie viele Punkte
angegeben sein müssen, um in einem Koordinatensys-
tem ein komplettes Quadrat zu zeichnen. Letztlich geht
SINUS in
Dingolfing
Lösungswege überlegen
Am Anfang
steht selb-
ständiges
Nachdenken.
A
fotos: marcus lechner
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Seit 1998 läuft das Programm SINUS. Es hilft
Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen,
den Mathematikunterricht zu verbessern.