ie
deutsche Jugend–
bewegung
warmehrals
nur Flucht
aus der Großstadt.
Sie erweckte
auch
Volkslied und
Volkstanz
zu neuem Leben.
Fortsetzung von Seite 11
seelenlosen Schulbetrieb ein–
zutauschen gegen echte Natur.
An Stelle von Buchwissen woll–
te man lebendige Anschauung,
eigene Erfahrung, das persönli–
che Erlebnis. Das war Revolu–
tion und Reform zugleich.
Schon die Kleidung, die
"Kluft" der Wandervögel , si–
gnalisierte die neue Lebensein–
stellurig. Vergeblich suchte
man bei ihnen Handschuhe,
den steifen Hut, die Krawatte
oder den gestärkten Hemdkra–
gen . Auch Regenschirm, Lack–
schuhe und Pomade waren ver–
pönt.
Statt dessen wurden der bis
zur Brust offene Schillerkragen,
die kurze Hose, Kniestrümpfe,
Pullover und Windjacken zum
Erkennungszeichen.
Zünftig
waren genagelte Schnürstiefel
und statt des Militärschnitts das
ungekünstelte lange Haar.
Der " Kluft" entsprach die in–
nere Einstellung. Bündisch den–
ken und fühlen, das hieß: auf
Äußerlichkeiten keinen Wert
legen, auf Bequemlichkeit ver–
zichten, Lüge und Verstellung
verachten , innere Werte und
die Wahrheit hochhalten.
Anspruchslos, bescheiden, ja
puritanisch einfach wollte man
leben. Darum schlief man im
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Zelt oder im Bauernquartier,
wusch sich mit kaltem Brun–
nenwasser, aß Rohkost oder
Eintopf, verzichtete auf Tabak
und Alkohol.
Aus · dem
Wanderleben
wuchs in dieser Jugend Liebe
zur Natur. Sie mit Abfällen zu
belasten, galt als Schande.
Gleichzeitig entdeckte man auf
den Fahrten durch die Heimat
auch Tradition und Volkstum.
Man begeisterte sich für bäuer–
liche Reigen , für Schreit- und
Singtänze.
Weit folgenreicher war die
Entdeckung des deutschen Lied–
gutes durch die Wanderbünde.
Im Zeltlager oder beim Nest–
abend stimmteman diealten Ge–
sänge an von Rittern und Lands–
knechten, Bergleuten und Bau–
ern, von Liebesfreud und Leid.
Mit später berühmt geworde–
nen Fahrtenbüchern wie dem
"Zupfgeigenhansl" oder dem
Band "Das Aufrecht Fähnlein "
sammelte und verbreitete man
die Lieder. in ihren schlichten,
inn igen , manchmal auch kerni–
gen Weisen verspürte man Hei–
matverbundenheit, Geschichte
und lebendiges Volkstum.
Rasch entwickelte sich aus
diesen Anfängen in Deutsch–
land eine eigene Jugendmusik–
bewegung, die der Hausmusik
starken Auftrieb gab.
Wesentlich zur Anziehungs–
kraft, ja zum Zauber der ju–
gendbünde trug der Stil des ge–
genseitigen Umgangs bei. Wor–
te wie Kameradschaft und
Freundschaft können das Ge–
fühl der Zusammengehörigkeit
nur ungenau bezeichnen, das
hier Gestalt gewann.
Mit den Fahrtgesellen teilte
man den Schluck Wasser aus
der Feldflasche, das letzte
Stück Brot. Den Jüngeren und
Schwächeren gebührte überall
Schonung. Gab es eine beson–
dere Last zu tragen, einen
schwierigen Weg zu gehen,
Holz oder Wasser zu holen, so
war das immer zuerst die Sache
der Älteren und Stärkeren . Um–
gekehrt erwuchs daraus aber
auch der freiwillige Gehorsam
der jungen Gefolgsleute. Was
für ein Gegensatz zu dem mili–
taristischen Drill , den die
Schulmonarchen in den Gym–
nasien damals aufzogen!
Aber die Distanz zur bürger–
lichen Weit sollte noch größer
werden . Als die bündische Ju–
gend bald auch Mädchen zu
den Gruppenstunden und zum .
Wandern einlud, da hielt das
Wilhelminische
Deutschland
den Atem an.
Bisher nämlich trennte man
die jungen Geschlechter streng
voneinander. Es gab nur reine
Buben- und Mädchenschulen.
Und nun zog man gemeinsam
durch Feld und Wald?!
Wider Erwarten hielt sich der
Protest der öffentlichen Moral
in Grenzen . Die Erwachsenen
hatten rasch erkannt, daß hier
dem Anstand keine Gefahr
drohte. Warum? Es gehörte zur
Grundeinstellung der bündi–
schen Jugend, von Äußerlich–
keiten wenig, von den inneren
Werten dafür um so mehr zu
halten. Deshalb war für sie
auch auf sexuellem Gebiet eine
fast asketische Zurückhaltung
selbstverständlich.
Aus Ehrfurcht vor der echten
Liebesgemeinschaft, die ein Le–
ben lang halten sollte, respek–
tierte man die Grenzen . Der
1915 gefallene Ernst Wurche
brachte dieses Ideal auf die be–
rühmte Formel " Reif werden
und rein bleiben ".
Dagegen kam es 1913 auf
anderem Gebiet zum Eklat. Al–
les, was Rang und Namen hat–
te, feierte damals auf dem
Schauplatz der Völkerschlacht
bei Leipzig das hundertjährige
Jubiläum des Sieges über Napo–
leon . Nur die Bündischen di–
stanzierten sich von dem Natio–
nalspektakeL
Sie feierten statt dessen auf
dem 300 km entfernten Hohen
Meißner bei Kassel ein "alter–
natives" Waldfest Leiden–
schaftlich bekannten sich dabei
die Wortführer zu den neuen
Idealen der deutschen Jugend–
kultur.
Als im Sommer 1914 ganz
Deutschland vor Kriegsbegei–
sterung aus dem Häuschen
war, erhielt Kaiser Wilhelm aus
dem Kreis der Bündischen fol–
gendes Telegramm : "Schützen
Sie die Jugend der ganzen Weit
vor dem entsetzlichen Unglück
eines Krieges ! Machen Sie in
letzter Minute die äußerste An–
strengung für die Erhaltung des
Friedens!"
Die Weltgeschichte kümmer–
te sich nicht darum. So verblu–
teten im Krieg 1914-1918 auf
den Schlachtfeldern Zehnlau–
sende aus der Gründergenera–
tion der Jugendbewegung. Die
Heimgekehrten aber gaben das
Erbe weiter an neue Gruppen
und Bünde, die in der Weima–
rer Republik sich nun zahlreich
entfalteten. Dazu kam die aus
England mächtig einströmende
Pfadfinderbewegung. Auch die
Kirchen und die Parteien grün–
deten nun eigene Jugend–
gruppen .
Das blühende jugendleben
der · Weimarer Republik zer–
schlugen die Nazis 1933. Was
folgte, war die braune Staatsju–
gend. jahrgangsweise zwangs–
rekrutiert, uniformiert, militari–
siert und ideologisch fanati–
siert, war die Hitlerjugend von
Grund auf etwas anderes als die
bündische Jugend.
Manche ihrer Führer finden
wir darum im Widerstand, an–
dere unter den Kl-Opfern und
Märtyrern des 1OOOjährigen
Reiches. Ein Beispiel dafür ist
der unbeugsame Sozialdemo–
krat Adolf Reichwein. Aber
trotz Gleichschaltung und Ter–
ror war die Jugendbewegung
nicht totzukriegen. Sie organi–
sierte sich nach Hitlers Ende
neu und lebt fort bis heute. Was
konnte sie in den gut 80 Jahren
ihrer Geschichte bewirken und
verändern?
Wenn wir heute Wanderta .,
halten, Klassenfahrten mach
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ins Skilager oder Schullan -
heim ziehen, Buben und Mäd–
chen gemeinsam unterrichten,
Schülerzeitungen herausgeben ,
junge Leute zur Mitverantwor–
tung heranziehen, uns von
Schultheatern und Jugendor–
chestern begeistern lassen,
dann stehen wir damit ganz in
der Tradition der Wanderbewe–
gung. Umwelt- und Natur–
schutz können sich auf sie
ebenso berufen wie das Bemü–
hen um Emanzipation und
Gleichberechtigung der Frau .
An den jugendbewegten Auf–
bruch um die jahrhundertwen–
de sollten wir denken, wenn
unsere Kinder heute in Iuft- und
sonnendurchflutete Schulhäu–
ser gehen, wenn Spielwiesen,
begrünte Pausenhöfe oder ein
Schulgarten sie umsäume
Nicht zuletzt wuchs aus die
Wurzel auch das deutsche ju–
gendherbergswerk mit allein in
Bayern über 100 Wanderstütz–
punkten.
Auch der Ton pedantischer
Drillmeister und seelenloser
Fachwissenschaft ist in den
Schulen heute verstummt. Die
Jugend findet dort weit mehr
Verständnis und hat mehr
Rechte als zu irgendeiner frühe–
ren Zeit. Wegbereiter dieser
und unzähliger anderer Fort–
schritte oder Reformen im
Schulleben bis herauf in unsere
Tage war der Umbruch, den
die Steglitzer Gymnasiasten mit
ihren Wanderungen einst aus–
gelöst hatten.
Die deutsche Jugendbewe–
gung war etwas Einmaliges. Sie
wies der Pädagogik Wege in
eine humanere Zukunft. Und
zwar weltweit.
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