Hitlers
Mein Kampf
– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16
Mein Kampf –
„Entwurf
einer Herrschaft“?
Eberhard Jäckels Untersuchung „Hitlers Weltanschau-
ung“ aus dem Jahr 1969 trägt den Untertitel „Entwurf
einer Herrschaft“. Die 1986 erschienene Darstellung
nimmt mit dem Titel „Hitlers Herrschaft. Vollzug einer
Weltanschauung“ unmittelbar auf das frühere Werk
Bezug und formuliert eine in der Geschichtswissenschaft
lang und heftig diskutierte These: Der Nationalsozialis-
mus sei die zielstrebige Umsetzung eines vorab formulier-
ten politischen Programms gewesen.
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Diese als Intentio-
nalismus bezeichnete Position spricht Hitler als starkem
Diktator eine zentrale Rolle zu und führt die Politik des
Nationalsozialismus nicht zuletzt auf ideologische Motive
zurück. Demgegenüber beharrt der Strukturalismus dar-
auf, dass die nationalsozialistische Politik wesentlich aus
der auf Radikalisierung abzielenden Eigendynamik eines
unübersichtlichen und polykratischen Herrschaftssystems
zu erklären sei, in dem Hitler als eher schwacher Diktator
nicht die (alles) entscheidende Rolle gespielt habe. Ohne
auf die Facetten dieser weitgehend überwundenen Dis-
kussion einzugehen, lässt sich festhalten, dass einerseits
der Nationalsozialismus ohne Hitler nicht denkbar ist,
da er nicht nur als „Führer“ das Regime repräsentierte,
sondern auch in alle wesentlichen Entscheidungen ein-
gebunden war, ja sie sogar an sich zog. Andererseits ist
Hitler ohne den Nationalsozialismus nicht denkbar, da
sein Nimbus auf der bedingungslosen Gefolgschaft sei-
ner Anhänger und der massenpsychologisch wirksamen
Stilisierung zum Heil bringenden „Führer“ beruhte und
da wichtige Entscheidungen ihm wegen der spezifischen
Struktur der NS-Herrschaft zufielen. Der „Staat Hitlers“
war ein Doppelstaat, in dem sich miteinander konkurrie-
rende Stellen des Staates und der NSDAP sowie eigens
eingerichtete Institutionen immer wieder gegenseitig
blockierten und gleichzeitig radikalisierten, was letztlich
„Führer“-Entscheidungen erforderlich machte. Dass viele
Funktionäre wild entschlossen waren, „dem Führer entge-
genzuarbeiten“, mithin vorauseilend den vermeintlichen
Willen Hitlers zu erfüllen, war ein wesentliches Merkmal
politischer Entscheidungen und trägt, etwa im Hinblick
auf die Durchführung des Holocaust, wesentlich zur
Erklärung der sich radikalisierenden Dynamik bei.
61 Jäckel (wie Anm. 57); ders.: Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltan-
schauung, Stuttgart 1986.
Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der historisch-
politischen Bildung eine nähere Betrachtung einiger Bei-
spiele interessant, um einerseits zu untersuchen, ob und
inwieweit die von Hitler in
Mein Kampf
formulierten
Ziele umgesetzt wurden, und andererseits zu erörtern,
welche Rolle Hitler im Rahmen des NS-Herrschaftssys-
tems spielte.
Die Beispiele zeigen, dass manche politischen Verspre-
chungen Hitlers, wie sich am Beispiel der Verbesserung
der Lage der Arbeiter zeigt, nicht viel wert waren. Der
ideologische Kern seiner Weltanschauung blieb überra-
schend konstant und bestimmte wesentlich die Politik in
der NS-Zeit. Allerdings stellten die in
Mein Kampf
formu-
lierten Vorstellungen keine konkreten Handlungsanwei-
sungen dar, die systematisch Schritt für Schritt umgesetzt
wurden. Dass Behinderte keine Kinder bekommen, dass
die Mitglieder der Volksgemeinschaft privilegiert werden
sollten, dass „Lebensraum im Osten“ geschaffen und dass
Juden aus der deutschen Gesellschaft entfernt werden soll-
ten, waren unverrückbare Vorstellungen, die auch durch-
gesetzt wurden. Wann und wie dies geschah, ist nicht in
Mein Kampf
nachzulesen, sondern ergab sich aus der kon-
kreten politischen Situation. Je mehr sich die NS-Herr-
schaft etablierte, umso größer waren die Spielräume für
die Durchsetzung der ideologischen Zielsetzungen.
Die nicht zu leugnende enge Verknüpfung Hitlers
mit der NS-Bewegung darf nicht dazu verleiten, in
der historisch-politischen Bildungsarbeit einem simp-
len „Hitlerismus“ zu verfallen. Wie gezeigt, waren die
politischen Vorstellungen Hitlers wenig originell. Sie
geben vielmehr die gängigen Vorstellungen des völkisch-
nationalsozialistischen Milieus wieder und stießen weit
darüber hinaus in der deutschen Bevölkerung auf Sym-
pathie und Zustimmung. Gerade die Gegenüberstellung
der programmatischen Aussagen in
Mein Kampf
und der
konkreten Umsetzung kann Anlass sein, die Rolle und
den Einfluss Hitlers zu thematisieren. Dass der Natio-
nalsozialismus ohne Hitler nicht denkbar ist, sich aber
umgekehrt nicht allein aus Hitlers Weltanschauung her-
aus erklären lässt, kann gerade an diesen Beispielen erar-
beitet werden.