Table of Contents Table of Contents
Previous Page  44 / 64 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 44 / 64 Next Page
Page Background

Hitlers

Mein Kampf

– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit

44

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16

Mein Kampf –

„Entwurf

einer Herrschaft“?

Eberhard Jäckels Untersuchung „Hitlers Weltanschau-

ung“ aus dem Jahr 1969 trägt den Untertitel „Entwurf

einer Herrschaft“. Die 1986 erschienene Darstellung

nimmt mit dem Titel „Hitlers Herrschaft. Vollzug einer

Weltanschauung“ unmittelbar auf das frühere Werk

Bezug und formuliert eine in der Geschichtswissenschaft

lang und heftig diskutierte These: Der Nationalsozialis-

mus sei die zielstrebige Umsetzung eines vorab formulier-

ten politischen Programms gewesen.

61

Diese als Intentio-

nalismus bezeichnete Position spricht Hitler als starkem

Diktator eine zentrale Rolle zu und führt die Politik des

Nationalsozialismus nicht zuletzt auf ideologische Motive

zurück. Demgegenüber beharrt der Strukturalismus dar-

auf, dass die nationalsozialistische Politik wesentlich aus

der auf Radikalisierung abzielenden Eigendynamik eines

unübersichtlichen und polykratischen Herrschaftssystems

zu erklären sei, in dem Hitler als eher schwacher Diktator

nicht die (alles) entscheidende Rolle gespielt habe. Ohne

auf die Facetten dieser weitgehend überwundenen Dis-

kussion einzugehen, lässt sich festhalten, dass einerseits

der Nationalsozialismus ohne Hitler nicht denkbar ist,

da er nicht nur als „Führer“ das Regime repräsentierte,

sondern auch in alle wesentlichen Entscheidungen ein-

gebunden war, ja sie sogar an sich zog. Andererseits ist

Hitler ohne den Nationalsozialismus nicht denkbar, da

sein Nimbus auf der bedingungslosen Gefolgschaft sei-

ner Anhänger und der massenpsychologisch wirksamen

Stilisierung zum Heil bringenden „Führer“ beruhte und

da wichtige Entscheidungen ihm wegen der spezifischen

Struktur der NS-Herrschaft zufielen. Der „Staat Hitlers“

war ein Doppelstaat, in dem sich miteinander konkurrie-

rende Stellen des Staates und der NSDAP sowie eigens

eingerichtete Institutionen immer wieder gegenseitig

blockierten und gleichzeitig radikalisierten, was letztlich

„Führer“-Entscheidungen erforderlich machte. Dass viele

Funktionäre wild entschlossen waren, „dem Führer entge-

genzuarbeiten“, mithin vorauseilend den vermeintlichen

Willen Hitlers zu erfüllen, war ein wesentliches Merkmal

politischer Entscheidungen und trägt, etwa im Hinblick

auf die Durchführung des Holocaust, wesentlich zur

Erklärung der sich radikalisierenden Dynamik bei.

61 Jäckel (wie Anm. 57); ders.: Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltan-

schauung, Stuttgart 1986.

Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der historisch-

politischen Bildung eine nähere Betrachtung einiger Bei-

spiele interessant, um einerseits zu untersuchen, ob und

inwieweit die von Hitler in

Mein Kampf

formulierten

Ziele umgesetzt wurden, und andererseits zu erörtern,

welche Rolle Hitler im Rahmen des NS-Herrschaftssys-

tems spielte.

Die Beispiele zeigen, dass manche politischen Verspre-

chungen Hitlers, wie sich am Beispiel der Verbesserung

der Lage der Arbeiter zeigt, nicht viel wert waren. Der

ideologische Kern seiner Weltanschauung blieb überra-

schend konstant und bestimmte wesentlich die Politik in

der NS-Zeit. Allerdings stellten die in

Mein Kampf

formu-

lierten Vorstellungen keine konkreten Handlungsanwei-

sungen dar, die systematisch Schritt für Schritt umgesetzt

wurden. Dass Behinderte keine Kinder bekommen, dass

die Mitglieder der Volksgemeinschaft privilegiert werden

sollten, dass „Lebensraum im Osten“ geschaffen und dass

Juden aus der deutschen Gesellschaft entfernt werden soll-

ten, waren unverrückbare Vorstellungen, die auch durch-

gesetzt wurden. Wann und wie dies geschah, ist nicht in

Mein Kampf

nachzulesen, sondern ergab sich aus der kon-

kreten politischen Situation. Je mehr sich die NS-Herr-

schaft etablierte, umso größer waren die Spielräume für

die Durchsetzung der ideologischen Zielsetzungen.

Die nicht zu leugnende enge Verknüpfung Hitlers

mit der NS-Bewegung darf nicht dazu verleiten, in

der historisch-politischen Bildungsarbeit einem simp-

len „Hitlerismus“ zu verfallen. Wie gezeigt, waren die

politischen Vorstellungen Hitlers wenig originell. Sie

geben vielmehr die gängigen Vorstellungen des völkisch-

nationalsozialistischen Milieus wieder und stießen weit

darüber hinaus in der deutschen Bevölkerung auf Sym-

pathie und Zustimmung. Gerade die Gegenüberstellung

der programmatischen Aussagen in

Mein Kampf

und der

konkreten Umsetzung kann Anlass sein, die Rolle und

den Einfluss Hitlers zu thematisieren. Dass der Natio-

nalsozialismus ohne Hitler nicht denkbar ist, sich aber

umgekehrt nicht allein aus Hitlers Weltanschauung her-

aus erklären lässt, kann gerade an diesen Beispielen erar-

beitet werden.