Hitlers
Mein Kampf
– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16
keren und Untergang des Schwächeren uminterpretiert
und mit dem Postulat der Rassenreinheit kombiniert.
Eine Vermischung führe demnach zu einem schleichenden
Niedergang. Waren diese Gedanken auch in völkischen
Kreisen weit verbreitet, so entsprachen sie schon damals
keineswegs dem wissenschaftlichen Stand der Biologie.
Entscheidend ist aber die Übertragung auf das mensch-
liche Zusammenleben und die geschichtliche Entwick-
lung, die sich in diesem Textauszug eindeutig markieren
lässt. Die Lebensdauer von menschlichen Kulturen, ihr
Aufstieg und ihr Niedergang, ihre Machtentfaltung und
ihr Machtverlust werden sozial- bzw. geschichtsdarwinis-
tisch als Ausdruck eines Rassenkampfes gedeutet. „Arier“
und „Juden“ sind dabei die Gegner, die sich auf Leben
und Tod bekämpfen. Die Entfernung, ja Vernichtung der
an anderer Stelle als „Parasiten“ bezeichneten Juden ist,
ohne dass dies schon als detaillierter Plan für den späteren
Holocaust gelesen werden muss, in diesem Weltbild eine
logische Konsequenz.
Je nach Interesse können dann weitere Passagen her-
angezogen werden – auch solche, die nicht im Zentrum
seiner Weltanschauung stehen, an denen aber auch sein
Weltbild deutlich wird. Dafür bieten sich z.B. Aussagen
zur Propaganda, zu Schule und Erziehung oder zum Frau-
enbild an, die über das Register der kritischen Edition
leicht zu erschließen sind.
Aufschlussreich ist auch, dass es Hitler und den
Nationalsozialisten gelang, gängige politische Begriffe wie
z.B. „Volksgemeinschaft“ umzudeuten. Dieser Terminus
war auch bei Anhängern der Weimarer Republik beliebt,
bevor er ideologisch eindeutig instrumentalisiert wurde
und nun nicht mehr unbefangen benutzt werden kann.
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Argumentation und Sprache
Im Zusammenhang mit den konkreten inhaltlichen Aus-
sagen sind auch die argumentativen Grundmuster und die
sprachlich-stilistischen Merkmale des Textes zu beachten.
Wichtig ist der Hinweis, dass Hitlers Weltanschauung in
keiner Weise originell ist. Er kompiliert die zeitgenössische
völkische Diskussion und unterscheidet sich allenfalls in
der Ausführlichkeit der Darstellung und in der Rigorosität
der Anwendung seiner Deutungsmuster von vergleichba-
ren Autoren. Die Grundgedanken wie z.B. der Rassismus
oder der Sozialdarwinismus gehen dabei ideengeschicht-
lich weit ins 19. Jahrhundert zurück, als sie schon von
Autoren wie Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882)
59 Vgl. Hartmann u.a. (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 190, Anm. 128.
oder Houston Stuart Chamberlain (1855–1927) vertre-
ten wurden. Hitlers Argumentation konnte damals an
gesellschaftlich präsente, ja akzeptierte Deutungsmus-
ter anschließen. Einzelne Sätze und Passagen würden,
in Unkenntnis des Kontextes und herausgelöst aus dem
Zusammenhang, auch heute noch bei einigen auf Zustim-
mung stoßen, weil Hitler immer wieder scheinbar allge-
meingültige Aussagen mit seinen ideologischen Postulaten
kombiniert. Auch Hitlers Stil, der heute als eher sperrig,
ja mitunter als unfreiwillig komisch gilt, war „in vielerlei
Hinsicht für seine Zeit nicht ungewöhnlich“.
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Wie ideologisches Denken funktioniert, demonstriert
Barbara Zehnpfennig an Hitlers Aussagen zum Lesen.
Dieses dient bei ihm nicht dem Informations- oder gar
dem Erkenntnisgewinn, sondern – unter Ausblendung
divergierender Ansichten – der Bestätigung seiner eigenen
Grundsätze.
In einer Übung zu Sprache und Stil können die beson-
deren sprachlichen Merkmale und deren Funktion her-
ausgearbeitet werden. Militärisches und biologisches
Vokabular, Rückgriff auf Sprichwörter und vermeintliche
Lebensweisheiten, Verzicht auf Begründung der eigenen
Aussagen, Verwendung rhetorischer Fragen, Neigung zum
Nominalstil, die Einfügung dem mündlichen Sprachge-
brauch entlehnter Füllwörter und die Bevorzugung von
Gegenüberstellungen sind durchgängige Merkmale des
Textes.
Das biologistisch-rassistische Weltbild, das strikte
Freund-Feind-Denken, der unbedingte Vernichtungswille
und die menschenverachtende Sprache, die im Buch auf
fast jeder Seite begegnen, sind zeitunabhängige Deutungs-
muster, die immer wieder aufgegriffen werden können.
60 Ebd., Bd. 1, S. 21–24, hier S. 21.