Table of Contents Table of Contents
Previous Page  36 / 64 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 36 / 64 Next Page
Page Background

Hitlers

Mein Kampf

– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit

36

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16

keren und Untergang des Schwächeren uminterpretiert

und mit dem Postulat der Rassenreinheit kombiniert.

Eine Vermischung führe demnach zu einem schleichenden

Niedergang. Waren diese Gedanken auch in völkischen

Kreisen weit verbreitet, so entsprachen sie schon damals

keineswegs dem wissenschaftlichen Stand der Biologie.

Entscheidend ist aber die Übertragung auf das mensch-

liche Zusammenleben und die geschichtliche Entwick-

lung, die sich in diesem Textauszug eindeutig markieren

lässt. Die Lebensdauer von menschlichen Kulturen, ihr

Aufstieg und ihr Niedergang, ihre Machtentfaltung und

ihr Machtverlust werden sozial- bzw. geschichtsdarwinis-

tisch als Ausdruck eines Rassenkampfes gedeutet. „Arier“

und „Juden“ sind dabei die Gegner, die sich auf Leben

und Tod bekämpfen. Die Entfernung, ja Vernichtung der

an anderer Stelle als „Parasiten“ bezeichneten Juden ist,

ohne dass dies schon als detaillierter Plan für den späteren

Holocaust gelesen werden muss, in diesem Weltbild eine

logische Konsequenz.

Je nach Interesse können dann weitere Passagen her-

angezogen werden – auch solche, die nicht im Zentrum

seiner Weltanschauung stehen, an denen aber auch sein

Weltbild deutlich wird. Dafür bieten sich z.B. Aussagen

zur Propaganda, zu Schule und Erziehung oder zum Frau-

enbild an, die über das Register der kritischen Edition

leicht zu erschließen sind.

Aufschlussreich ist auch, dass es Hitler und den

Nationalsozialisten gelang, gängige politische Begriffe wie

z.B. „Volksgemeinschaft“ umzudeuten. Dieser Terminus

war auch bei Anhängern der Weimarer Republik beliebt,

bevor er ideologisch eindeutig instrumentalisiert wurde

und nun nicht mehr unbefangen benutzt werden kann.

59

Argumentation und Sprache

Im Zusammenhang mit den konkreten inhaltlichen Aus-

sagen sind auch die argumentativen Grundmuster und die

sprachlich-stilistischen Merkmale des Textes zu beachten.

Wichtig ist der Hinweis, dass Hitlers Weltanschauung in

keiner Weise originell ist. Er kompiliert die zeitgenössische

völkische Diskussion und unterscheidet sich allenfalls in

der Ausführlichkeit der Darstellung und in der Rigorosität

der Anwendung seiner Deutungsmuster von vergleichba-

ren Autoren. Die Grundgedanken wie z.B. der Rassismus

oder der Sozialdarwinismus gehen dabei ideengeschicht-

lich weit ins 19. Jahrhundert zurück, als sie schon von

Autoren wie Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882)

59 Vgl. Hartmann u.a. (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 190, Anm. 128.

oder Houston Stuart Chamberlain (1855–1927) vertre-

ten wurden. Hitlers Argumentation konnte damals an

gesellschaftlich präsente, ja akzeptierte Deutungsmus-

ter anschließen. Einzelne Sätze und Passagen würden,

in Unkenntnis des Kontextes und herausgelöst aus dem

Zusammenhang, auch heute noch bei einigen auf Zustim-

mung stoßen, weil Hitler immer wieder scheinbar allge-

meingültige Aussagen mit seinen ideologischen Postulaten

kombiniert. Auch Hitlers Stil, der heute als eher sperrig,

ja mitunter als unfreiwillig komisch gilt, war „in vielerlei

Hinsicht für seine Zeit nicht ungewöhnlich“.

60

Wie ideologisches Denken funktioniert, demonstriert

Barbara Zehnpfennig an Hitlers Aussagen zum Lesen.

Dieses dient bei ihm nicht dem Informations- oder gar

dem Erkenntnisgewinn, sondern – unter Ausblendung

divergierender Ansichten – der Bestätigung seiner eigenen

Grundsätze.

In einer Übung zu Sprache und Stil können die beson-

deren sprachlichen Merkmale und deren Funktion her-

ausgearbeitet werden. Militärisches und biologisches

Vokabular, Rückgriff auf Sprichwörter und vermeintliche

Lebensweisheiten, Verzicht auf Begründung der eigenen

Aussagen, Verwendung rhetorischer Fragen, Neigung zum

Nominalstil, die Einfügung dem mündlichen Sprachge-

brauch entlehnter Füllwörter und die Bevorzugung von

Gegenüberstellungen sind durchgängige Merkmale des

Textes.

Das biologistisch-rassistische Weltbild, das strikte

Freund-Feind-Denken, der unbedingte Vernichtungswille

und die menschenverachtende Sprache, die im Buch auf

fast jeder Seite begegnen, sind zeitunabhängige Deutungs-

muster, die immer wieder aufgegriffen werden können.

60 Ebd., Bd. 1, S. 21–24, hier S. 21.