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Mobilisierung durch Populismus?
Einsichten und Perspektiven 1 | 17
dem Bruch mit Bernd Lucke und der Spaltung in ALFA
und AfD wandelte sich auch die Wählerschaft der Par-
tei. Die AfD konnte vor allem junge bis mittelalte Män-
ner für sich gewinnen, die sich darüber hinaus oftmals
in prekären Beschäftigungsverhältnissen aufhielten. Das
durchschnittliche Bildungsniveau der Wählerschaft sank
deutlich, sodass die Partei heute zu einem größeren Teil
von den unteren und mittleren Bildungsschichten gewählt
wird, als dies vor der Spaltung der Fall war.
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Rüdiger
Schmitt-Beck macht vor allem politisch Unentschlossene
als Wählerpotential aus. Schon bei der Bundestagswahl
2013 haben sich etwa 70 Prozent ihrer Wähler/-innen und
Wähler erst sehr kurz vor der Wahl entschlossen die AfD
zu wählen.
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Insgesamt wird der AfD ein Reservoir an Wähler/-innen
attestiert, welches mit dem anderer europäischer Rechts
populisten vergleichbar ist. Sympathisantinnen und Sympa-
thisanten europäischer rechtspopulistischer Parteien kom-
men häufig aus demMilieu der „Modernisierungsverlierer“.
Arbeitslose oder prekär Beschäftigte, sozial exkludierte
und armutsgefährdete Bürger/-innen mit relativ niedrigem
sozioökonomischem Status sind besonders empfänglich für
die Programme dieser Parteien.
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Häufig gehörten diese
Gruppen zur traditionellen Klientel sozialdemokratischer,
sozialistischer oder kommunistischer Parteien, weshalb z.T.
auch von einem „Proletarisierungstrend“ des rechtspopu-
listischen Elektorats Ende der neunziger Jahre gesprochen
wird.
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Für die AfD ist diese Entwicklung allerdings noch
nicht abgeschlossen, weshalb sich eine endgültige Analyse
des Einflusses sozioökonomischer Faktoren auf die Wahl-
entscheidung bezüglich der AfD nicht formulieren lässt.
Die soziale Schieflage in der Wahlbeteiligung
Nicht nur bei der Sozialstruktur der Parteien, sondern
auch in der Wahlbeteiligung lassen sich starke sozioöko-
nomische Unterschiede erkennen. Während eine niedrige
Wahlbeteiligung besonders unmittelbar nach Wahlen häu-
fig thematisiert und problematisiert wird, war sich die Poli-
tikwissenschaft über die Konsequenzen sinkender Beteili-
15
Vgl. Robert Pausch: Partei der radikalisierten Mitte, http://www.zeit.de/
politik/deutschland/2016-03/afd-analyse-erfolg-landtagswahlen-partei- waehler [Stand: 21.02.2017].16 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck: The ‘Alternative für Deutschland in the Elec-
torate’. Between Single-Issue and Right-Wing Populist Party, in: German
Politics (2016), S. 1–25, hier S. 5.
17 Vgl. Spier (wie Anm. 7), S. 186 f.
18 Vgl. Hans-Georg Betz: Rechtspopulismus in Westeuropa. aktuelle Ent-
wicklungen und politische Bedeutung, in: Österreichische Zeitschrift für
Politikwissenschaft 31 (2002), H. 3, S. 251–264, hier S. 258.
gungsquoten lange im Unklaren. Vielmehr behandelte
das Fach das Thema „Nichtwahl“ lange Zeit als Neben-
schauplatz. Gerade die deutsche Politikwissenschaft sah
sinkende Wahlbeteiligung lange entweder als Angleichung
der hohen Beteiligungsquoten auf europäisches Normal
niveau, als Ausdruck der Zufriedenheit mit den bestehen-
den Verhältnissen oder als Verschiebung von klassischer
Partizipation hin zu neueren „unkonventionellen“ For-
men wie Boykotten von Marken oder Bürgerbegehren.
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Alle drei Thesen können allerdings nicht endgültig
überzeugen. Das Phänomen sinkender Wahlbeteiligung
beschränkt sich nicht nur auf die Bundesrepublik, son-
dern ist europaweit auf allen politischen Ebenen zu
beobachten. So sinkt beispielsweise die gesamteuropä-
ische Wahlbeteiligung bei Europawahlen seit der ersten
Wahl 1979 kontinuierlich, was grundsätzlich auf einen
durchschnittlichen Rückgang auch in einem Großteil
weiterer Mitgliedsstaaten hinweist. In diesem Kontext
spielt es zwar auch eine Rolle, dass tendenziell partizi-
pationsschwache Mitgliedsstaaten im Osten Europas erst
verhältnismäßig spät Mitglieder der Europäischen Union
wurden und somit die Wahlbeteiligung stärker verrin-
gerten, aber auch in nationalen Kontexten lässt sich in
Europa – sowie weltweit – ein Rückgang der Wahlbetei-
ligung beobachten.
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Im Gegensatz zur Zufriedenheits-
these wird vielmehr häufig ein positiver Zusammenhang
zwischen höherer Zufriedenheit der Wähler/-innen und
einem höheren politischen Engagement analysiert.
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Neue,
unkonventionelle Formen der politischen Partizipation
werden ebenfalls eher von denjenigen genutzt, die auch
schon zur Wahl gehen und sich politisch engagieren. Es
findet also weniger eine Substitution als vielmehr eine
Ergänzung des Wahlakts durch neue Partizipationsfor-
men statt, welcher sich aber auf die Gruppe der ohnehin
schon Wählenden beschränkt.
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Während also die Theorien derjenigen, die sinkende
Wahlbeteiligung als unproblematisch ansehen, nicht
überzeugen können, wird vor allem in der jüngeren For-
schung das Argument der „sozialen Schieflage“ in der
19 Vgl. Frank Decker/Marcel Lewandowsky/Marcel Solar: Demokratie ohne
Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation, Bonn
2013, S. 44.
20 Vgl. Michael Kaeding/Stefan Haußner/Morten Pieper: Nichtwähler in Eu-
ropa, Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Ursachen und Konsequen-
zen sinkender Wahlbeteiligung, Wiesbaden 2016, S. 15.
21 Vgl. Pippa Norris: Democratic phoenix. Reinventing political activism,
Cambridge/New York/Melbourne/Madrid/Cape Town 2002.
22 Vgl. Wolfgang Merkel/Alexander Petring: Partizipation und Inklusion,
Bonn 2011, 22 f.