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50 Jahre Sozialwissenschaftliches Gymnasium
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Die lustig bis bissig gemeinten Bemerkungen zum „Knödelabitur“ hatten ursprünglich die hauswirtschaftlich orientierten Mädchenschulen der 1. Hälfte des
20. Jahrhunderts mit den „Fächern des Frauenschaffens“ im Visier. Obwohl das SWG sich der Reste dieses Erbes erst schleichend und dann abrupt entledigte
und viele Unterrichtsmaterialien, wie hier eine Handreichung des ISB, über Mechanismen und Wirkungen geschlechtsbezogener Vorurteile aufklärten, hielten
sich die Vorbehalte noch länger. Mitunter ließen sie eher Einblicke in die Denkwelten derer zu, die sie zu brauchen schienen. Dass andererseits heute junge
Leute, unabhängig vom Geschlecht und Bildungsabschluss, oft zu wenig lebensweltliche Kompetenzen zur Verfügung haben, wird häufig bedauert – gerade
bei übergreifenden Themen wie Ernährung, Gesundheit, Verbraucherverhalten oder Erziehung.
Foto: privat
Von Knödeln, unbefangenen Jungen, Kochen für
Einsteiger und Survivalkursen
Vielleicht zeigt das Gymnasium Seligenthal Landshut mit
seiner langen sozialwissenschaftlichen Tradition einen
gangbaren und klugen Weg auf: Im Wahlkursbereich fin-
den sich Elemente, die zu einem partnerschaftlichen Ver-
halten im Alltag erziehen. Natürlich kann das jede Schule
einrichten. Es mag aber sein, dass eine SWG-Tradition
und der bewusste Umgang mit Genderklischees es sogar
leichter machen, sich von ihnen zu lösen.
Neue Chancen für den Zweig sahen Mitte der Acht-
zigerjahre mehrere Autoren in der Loslösung von den
„mädchenorientierten“ Traditionen. Gefordert wurde
eine Neuprofilierung, u.a. über eine erweiterte Interpre-
tation des Begriffs „Sozial-“ mit stärkerer soziologischer
und politischer Perspektive. 
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Vorgeschlagen wurde auch
eine deutlichere Orientierung an Kenntnissen und Fähig-
keiten, die der partnerschaftlichen Bewältigung der Auf-
gaben in Familie, Gesellschaft und Staat dienen sollten.
Das Kultusministerium hatte die Signale bereits vorher
aufgegriffen: Ab dem Jahr 1990 wurde ein neues Fach
„Sozialpraktische Grundbildung“ für die Jahrgangsstufe
11 konzipiert. Es ersetzte die „Sozialpflegerischen Übun-
gen“. Die damalige ISB-Referentin Ilse Merkel-Baptist
wies in einer Handreichung eigens auf die Weitung der
Sichtweise hin: „Durch die neue Fachbezeichnung soll
eine Beschränkung auf den „pflegerischen“ Bereich ver-
mieden und die enge Verbindung von Theorie und Praxis
zum Ausdruck gebracht werden.“ 
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Das Fach erhielt ein wissenschaftlicheres Profil und
deutliche Bezüge zu Themen aus der Psychologie, Päda-
gogik, Soziologie und der Sozialpsychologie. So rückten
z.B. die kindliche Entwicklung ins Blickfeld, die sozialen
Aspekte von Arbeit und Beruf oder die Lebenswelt im
Alter. Die Themen waren mit den zu leistenden Praktika
verknüpft, die theoretische Begleitung im Unterricht wer-
tete das Praktikum auf.
10 Vgl. z.B. Michael Kretschmer: Das Profil des Sozialwissenschaftlichen Gym­
nasiums vor dem gesellschaftlich-technischen Wandel unserer Zeit. Vortrag
vor dem Arbeitskreis Mädchenbildung am 27. September 1991 in München.
11 Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (Hg): Handrei­
chung für das Fach Sozialpraktische Grundbildung, München 1991, S. 5.
1...,37,38,39,40,41,42,43,44,45,46 48,49,50,51,52,53,54,55,56,57,...80
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