Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 5

Zur Lage der Ukraine zwischen Ost und West: Strukturen und aktuelle Entwicklungen
Einsichten und Perspektiven 1 | 14
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Außenpolitischer Zick-Zack-Kurs der Ukra-
ine 1991 bis 2004
Die Ukraine, die immerhin nach Russland das flächenmä-
ßig zweitgrößte Land Europas ist, wurde 1991, nach dem
Kollaps der Sowjetunion, ein unabhängiger Staat, der seit
Beginn seiner Unabhängigkeit gegenüber Russland zwar
die Bereitschaft zur Kooperation betonte, aber dennoch
sichtbare Distanz hielt. 1994 erklärte Kiew sogar, der Euro-
päischen Union beitreten zu wollen. Der Hintergrund für
diese Positionierung war nicht nur die sehr schwierige wirt-
schaftliche und soziale Lage des Landes, sondern auch der
absehbare EU-Beitritt der westlichen Nachbarn. Mit diesen
bestanden gesonderte Handelsabkommen, die Schaden zu
nehmen drohten. Die Ukraine war zudem das erste GUS-
Land, das mit der NATO kooperierte.
1999 traten die beiden Nachbarn Polen und Un-
garn der NATO bei, 2004 der EU. Somit wuchs auf der ei-
nen Seite das Interesse des Westens an der Ukraine sowie vi-
ce versa die Attraktivität der nunmehr benachbarten euro-
atlantischen Welt, die zum einen demokratische Freiheiten
wie auch die Verlockungen eines westlichen Lebenstils ver-
hieß. Auf der anderen Seite gewann Russland an Hand-
lungsfähigkeit, und eine enge Zusammenarbeit mit Moskau
erschien anziehender als zuvor. Auf diese Weise sahen sich
in der Ukraine sowohl die Vertreter eines West-, als auch
diejenigen eines Ostkurses ermutigt. Die Außenpolitik der
Ukraine wurde folglich zunehmend sprunghafter, da die
Führung des Landes glaubte, mal dem einen, mal dem an-
deren der etwa gleich starken Lager entgegenkommen zu
müssen.
2002 deutete Präsident Leonid Kutschma die Mög-
lichkeit eines NATO-Beitritts seines Landes an, obgleich er
seine Wahlkämpfe mit pro-russischen Parolen geführt hat-
te. Im Frühjahr 2003 ordnete Kutschma gegen harten in-
nenpolitischen Widerstand sogar die Entsendung ukraini-
scher Truppen in den Irak an, um die USA zu unterstützen.
Aus der Sicht vieler Russen musste das Szenario eines wei-
teren Heranrückens der NATO an Russlands Grenzen mit-
hin bedrohlich erscheinen.
Im Herbst 2003 sandte die Ukraine jedoch zunächst entge-
gengesetzte Signale aus. Kiew und Moskau einigten sich auf
die Schaffung eines „Einheitlichen Wirtschaftsraums“. Der
innenpolitische Widerstand in der Ukraine war jedoch so
stark, dass Kutschma sich bereits wenige Tage später zum
faktischen Ausstieg aus dem Vorhaben gezwungen sah. Zu-
dem hatten westliche Regierungen und Organisationen ge-
warnt, dass eine Ost-Orientierung der Ukraine eine Inte-
gration in westliche Strukturen zumindest erschwere, wenn
nicht ausschließe.
Im Juni 2004 verabschiedete die Ukraine eine neue
Militärdoktrin, in der die EU- sowie NATO-Mitgliedschaft
als Ziele bezeichnet wurden. Kurz darauf erklärte der Prä-
sident jedoch, sein Land strebe vorerst keinen NATO-Bei-
tritt an. Ende Juli ergänzte er, auch der EU-Beitritt sei nicht
beabsichtigt. Die Ukraine strebe jedoch eine „euro-atlanti-
sche Integration“ an.
Die jüngsten dramatischen Ereignisse haben den Blick auf ein Land in unserer Nach-
barschaft gelenkt, über das zuvor eher nur am Rande berichtet wurde. Im folgenden
Beitrag werden Entwicklungen zwischen 1991 und 2014 skizziert und Hintergründe
sowie Auswirkungen der sprachlich-kulturellen Spaltung des Landes beleuchtet.
Der Staatspräsident der Ukraine, Leonid Kutschma, mit dem rus-
sischen Staatspräsidenten Wladimir Putin, 18. August 2004
Foto: ullstein bild/Nowosti
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