Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 63

Die vergessenen Frauen von Aichach
Einsichten und Perspektiven 3 | 13
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Es ist das Staatsarchiv in der Münchner Schönfeldstraße, in
dem die Akten des Frauengefängnisses Aichach aus der Zeit
des Nationalsozialismus und davor aufbewahrt werden. In
blauem Karton eingebunden, auf der Vorderseite versehen
mit diversen handschriftlichen Bemerkungen aus Tinte,
liegt ein Stapel dieser alten, abgenutzten Akten auf dem
Tisch im Lesesaal des Archivs. Öffnet man sie, wird aus Ge-
richtsurteilen, ärztlichen Berichten, konfiszierten Briefen,
„kriminalbiologischen“ Untersuchungen und Meldungen
über Arbeitsfleiß und Betragen ein Frauenschicksal leben-
dig, das zugleich auch die Geschichte von zunehmender
Ausgrenzung und Repression bereits in der Weimarer Re-
publik und im späteren Nationalsozialismus erzählt – bis
hin zur Ermordung.
Es ist Freitag, der 16. März 1928, als am Strafgericht
München in der Au der Amtsrichter Pollner das Urteil ver-
kündet: vier Monate Haft, schuldig wegen einfachen Dieb-
stahls im Rückfall. Das Urteil gilt Walburga W., einer 32-
jährigen Frau, „hellblond, 1,56Meter groß, 51,3 kg schwer“,
wird später in der Akte des Frauengefängnisses Aichach
über den „Häftling 851“ zu lesen sein. Der Anstaltsarzt
wird in seinem Befund zudem festhalten: „Oben falsches
Gebiß, chronische Mittelohreiterung, schwerhörig, zu allen
Arbeiten geeignet.“
WarumWalburga W. einen Monat nach dem Urteil
um 17.45 Uhr in der Haftanstalt Aichach, dem größten
Frauengefängnis in Bayern, gut 60 Kilometer nordwestlich
von München, ihre Haftstrafe antritt, hat etwas mit der
„Kriminalsekretärsfrau Luise Oberleitner“ zu tun. Die will
nämlich gesehen haben, wie sich Walburga W. am 12. Ok-
tober des vorangegangenen Jahres im Münchner Kaufhaus
Tietz „an eine Frau herandrängte, in deren äußeren Mantel-
tasche sie wahrscheinlich Geld vermutete, und wie sie mit
der rechten Hand in Richtung gegen die Tasche griff, um
daraus die dort vermutete Geldtasche zu stehlen“, so das
Gerichtsprotokoll. Zum Diebstahl kam es zwar gar nicht,
was den Richter aber nicht von seinem Urteil abhielt, hatte
Walburga W. doch auch noch einen Damenhut imWert von
zehn Mark versucht zu entwenden und war außerdem
schon zweimal wegen Taschendiebstahl vorbestraft.
Lebenslange „Ausschaltung“
Das alles wäre für das Schicksal von Walburga W. nicht so
bedeutend gewesen, hätte Amtsrichter Pollner nicht imOk-
tober 1927 gegen einen gewissen Adolf Hitler wegen eines
Aufrufs zu einer Spendenaktion für die NSDAP verhandelt.
Und wäre nicht ein gewisser HeinrichHimmler, der mit sei-
ner Frau eine Hühnchenzucht in Waldtrudering bei Mün-
chen betrieb, von Hitler zwei Jahre später zum „Reichsfüh-
rer SS“ berufen worden.
Noch aber gibt es mildernde Umstände für die
Münchnerin Walburga W., eine zierliche Frau mit eher her-
ben Gesichtszügen. Das Gericht billigt ihr „eine ungünsti-
ge wirtschaftliche Lage“ und eine „psychopathische Veran-
lagung“ zum Taschendiebstahl zu, ihr „Hemmungsvermö-
gen“ sei wesentlich beeinträchtigt.
Ihre wirtschaftliche Lage sieht so aus, dass Wal-
burga W. seit 1926 von ihrem Mann geschieden ist, der ein
Trinker sei, wie sie sagt. Aus der Ehe sind zwei Töchter her-
vorgegangen, zur Zeit der Verurteilung sieben und zwei Jah-
re alt. Sie wachsen bei den Großeltern auf, dorthin ist auch
Walburga W. nach ihrer Scheidung wieder gezogen. Die
Wohnung liegt im Münchner Arbeiterviertel Giesing, zwei
von vier Zimmern in einer aufgeteilten Wohnung, ein Koh-
leofen, ein Ausguss am Flur, insgesamt vier Hinterhöfe.
Hier lebten die Arbeiter der Brauereien, der Münchner
Trambahn, der Metallbetriebe. Giesing, das war eines der
Viertel, um die in der Münchner Räterepublik heftig ge-
kämpft wurde und in denen die siegenden weißen Truppen
Der hektografierte vergilbte Zettel verrät nicht, was er bedeutet. „Die Obengenannte
wurde am 26. 3. 1943 der Polizei übergeben. Die Strafunterbrechung wurde vom
Reichsjustizministerium angeordnet“, ist da zu lesen. Die „Obengenannte“ war die
48-jährige Münchnerin Walburga W., die im Frauengefängnis Aichach wegen kleiner
Diebstähle einsaß. Wie 361 andere Frauen auch, die sich in sogenannter „Sicherheits-
verwahrung“ befanden, wurde sie in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht und
starb dort – wie die meisten – innerhalb weniger Wochen an den furchtbaren Lebens-
bedingungen. Die Geschichte dieser Gruppe von NS-Opfern ist eine vergessene Ge-
schichte, die auch nach dem Ende des „Dritten Reiches“ nicht erzählt wurde.
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