Experten-Interview: Warum brauchen wir überhaupt Noten?

Prof. Dr. Dr. Werner Wiater, Lehrstuhlinhaber für Schulpädagogik an der Universität Augsburg
Prof. Dr. Dr. Werner Wiater, Lehrstuhlinhaber für Schulpädagogik an der Universität Augsburg

Prof. Dr. Dr. Werner Wiater ist seit 1987 Lehrstuhlinhaber für Schulpädagogik und zudem Vize-Präsident der Universität Augsburg. Zuvor war er u. a. Gymnasiallehrer für Französisch, Katholische Religion und Pädagogik in Nordrhein-Westfalen. Er ist Vater von drei Kindern. Im Interview spricht er über Noten, Leistung und Elternhäuser.

Herr Professor Wiater, warum brauchen wir Noten? Noten sind vielen Vorwürfen ausgesetzt: Sie würden demotivieren, Druck ausüben, selektieren.
Diese vielfach strapazierte Liste von Argumenten könnte ich noch ergänzen. Genauso gut könnte ich aber auch eine Liste mit Argumenten zugunsten von Noten aufmachen: Noten orientieren über den aktuellen Leistungsstand, sie machen den Leistungsstand eines Schülers mit dem eines anderen vergleichbar. Sie motivieren, wenn ein Schüler in einem Fach seine Kompetenzen unter Beweis stellen konnte. So kommen wir nicht weiter.

Die Kernfrage lautet also: Brauchen wir überhaupt Noten?
Diese Frage beantworten unterschiedliche Personengruppen unterschiedlich. Aus Sicht der Schulpädagogik muss man sich letztlich überlegen, wozu die Schule überhaupt da ist. Eigentlich muss die Schule zwei Dinge leisten, die dialektisch zueinander stehen. Zum einen soll sie die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder fördern, zum anderen hat sie eine gesellschaftliche Funktion: Sie bereitet die Kinder und Jugendlichen auf die hohen Anforderungen der Wissensgesellschaft mit all ihren Vorzügen und Nachteilen vor. Wir haben also die Persönlichkeitsentwicklung auf der einen, die Leistungserziehung auf der anderen Seite.

Welche Konsequenzen hat das?
Natürlich können Sie eine Schule konzipieren, die auf alle Bewertungen verzichtet. Sie können jedem Kind einen nett formulierten Abschluss geben. Aber was passiert dann? Dann werden die Institutionen, auf die die Schule eigentlich im Bereich Leistungserziehung vorbereiten soll, ihre eigenen Aufnahmeprüfungen machen. Wie begründen wir aber dann noch, dass Kinder viele Jahre einen großen Teil ihrer Lebenszeit in der Schule verbringen? Auch im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung muss Notengebung differenziert gesehen werden und kein Schaden sein. Persönlichkeitsentwicklung heißt, dass ich herausfordernde Aufgaben gestellt bekomme, um an mir überhaupt entdecken zu können, wo meine Fähigkeiten und mein Entfaltungspotenzial liegen. Eine Feststellung darüber, egal ob Sie das in Ziffern fassen oder verbale Beurteilungen schreiben, kommt aber nicht umhin zu sagen: Die Jungen und Mädchen an unseren Schulen sind eben unterschiedlich hinsichtlich der drei Felder, die für Noten relevant sind: Lernweise, Lernfähigkeit und Lernbereitschaft.

Solchen Feststellungen, also auch Noten, wird oft eine sehr große Bedeutung beigemessen. Wie beurteilen Sie das?
Für Grundschulkinder haben Noten eine Bedeutung bekommen, die mit nichts mehr gerechtfertigt werden kann. Diese Bedeutung bekommen sie dadurch, weil manche Elternhäuser, die sich für ihre Kinder nur das Gymnasium als weiterführende Schule vorstellen können, schon ein „Befriedigend“ für eine Katastrophe halten. Dabei haben Noten nur sehr bedingt prognostischen Wert. Eine Note kann immer nur das erfassen, was ein Schüler in den Feldern Lernweise, Lernfähigkeit und Lernbereitschaft gezeigt hat. Mehr nicht.

Was können wir den Eltern sagen?
Der Übertritt ans Gymnasium liefert hierfür ein schönes Beispiel. Wieso gibt es Schüler, die in der 4. Klasse für einen Übertritt ans Gymnasium empfohlen werden, dann aber in einer bestimmten Situation doch plötzlich Schwierigkeiten haben? In einer hochinteressanten Langzeitstudie aus dem Jahr 2009 hat Helmut Fendt Bildungsverläufe untersucht. Darin hat er nachgewiesen, dass etwa Veränderungen im Elternhaus einen viel höheren Anteil daran haben, wenn ein Kind in der Schule scheitert, als die Leistungsfähigkeit oder die Lernbereitschaft. Ich kann nach der 4. Jahrgangsstufe nur sagen: Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht wesentlich verändern, wenn Gefährdungen im Jugendalter, die allenthalben bestehen, keine gravierenden Auswirkungen haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass jemand diese weiterführende Schule problemlos durchläuft. Aber ich kann aus dem Übertritt ins Gymnasium keinen Schluss über die weitere Bildungskarriere ziehen. Das lässt sich mit der empirischen Forschung nicht absichern.

Dann sind eigentlich nicht die Noten das Problem, sondern der Umgang mit ihnen. Wie sollen wir denn damit umgehen?
Meiner Meinung nach sind drei Dinge besonders wichtig. Erstens eine intensive Elternarbeit vom ersten Tag der Grundschule an: In regelmäßigen Abständen gibt die Lehrkraft den Eltern Rückmeldung über ihre Beobachtungen zur Entwicklung des Kindes. Die Lehrkraft spricht mit ihnen ebenso darüber, wie sie das Kind unterstützen oder möglicherweise auch belasten. Zweitens muss den Eltern klar werden, dass es auch andere Wege gibt, die Grundschule fortzusetzen, als nur das Gymnasium. Diese Fixierung auf das Gymnasium ist eine Katastrophe! Es ist im bayerischen Schulsystem bereits ohne große Probleme möglich, über alle Schularten alle Abschlüsse zu erreichen. Man darf nicht die psychische und physische Gesundheit eines Kindes belasten, wenn es auch auf anderem Wege den gleichen Abschluss erreichen kann. Drittens sollten wir sehr viel stärker kompetenz- statt defizitorientiert über die Leistungen von Kindern sprechen. Das eine Kind mag in abstrakten Lernprozessen besonders erfolgreich sein, ein anderes hat möglicherweise in anderen Bereichen Fähigkeiten, die es sich lohnt zu entfalten.

Auch die Lehrer können viel dazu tun, den Notendruck zu mindern und mit Noten richtig umzugehen. Wie kann das aussehen?
Entscheidend ist die Grundeinstellung, mit der ich als Lehrer meinen Schülern begegne. Mein Interesse als Lehrer muss es sein, dass dem Schüler die Leistung gelingt. Ich will dem Schüler behilflich sein, dass er den Lernanforderungen genügen kann. Der Schüler muss das auch merken. Wenn dies gegeben ist, dann kann ich auch dem Schüler sagen: Da hat es nicht gepasst. Entscheidend ist, dass der Lehrer nicht richtet, sondern sich auch didaktisch um die bestmögliche Vorbereitung der Leistungsüberprüfungen bemüht, etwa durch zusätzliche Übungsmaterialien.

Sie sprechen hier die Gestaltung von Leistungserhebungen an. Wie gestalte ich eine gute und faire Leistungserhebung?
Ein guter Lehrer wird sich immer wieder die bekannten Grundsätze vergegenwärtigen. Was die Schüler in einer Schulaufgabe gefragt werden, muss dem entsprechen, was im Unterricht durchgenommen wurde (außer bei Basiswissen). Dies gilt auch für die Gewichtung: Wenn ich etwas ausführlich behandelt habe, dann muss es auch bei der Schulaufgabe den entsprechenden Anteil bekommen. Die Abfolge der Aufgaben sollte sich eher vom Leichten zum Schweren vollziehen. Zudem sollten Lehrer überlegen, welche Alternativen sie bei den Leistungserhebungen nutzen können. Die Vielfalt ist groß. Aus den MODUS Schulversuchen gibt es erweiterte Möglichkeiten für Leistungsnachweise, die inzwischen auch gesetzlich verankert sind, zum Beispiel direkte Leistungsvorlagen. Der Schüler ist dabei an der Feststellung seiner Leistung noch aktiver beteiligt. Bekannte Formen sind das Portfolio oder das Lerntagebuch. Hier kann der Schüler zeigen, wie er vorgegangen ist, was ihn interessiert hat, wo er sich leicht oder schwer getan hat. Ganz wichtig ist mir auch: Noten dürfen nicht der Disziplinierung dienen. Noten müssen den Erweis dessen geben, was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt über einen bestimmten Sachverhalt an Kenntnissen oder Fähigkeiten erworben hat. Dazu gehört, im Unterricht in Lern- und Leistungsphasen zu trennen.

Welche Kriterien kann ich bei Noten überhaupt anwenden?
Die Entscheidung, welche Note ein Schüler bekommt, muss von einem objektiven Kriterium ausgehen. Dieses Kriterium setzen in der Regel die Lehrpläne. Sie sagen, welche Kompetenzen in einem Fach am Ende des Schuljahres erworben sein sollen. Daraus ergibt sich eine kompetenzorientierte Planung des Unterrichts und der einzelnen Leistungserhebungen. Das verbinde ich dann mit einem individuellen Bezugssystem. Mit diesem signalisiere ich dem Schüler, dass ich einen Lernfortschritt, den er gezeigt hat, wahrgenommen habe und dass ich ihm auch behilflich bin, weiter besser zu werden. Es kann sein, dass der Schüler trotzdem ein „Mangelhaft“ bekommt. Aber diese Rückmeldung ist notwendig.

Für den Schüler ist eine schlechte Note doch immer negativ.
Nicht unbedingt. Wichtig ist, nicht auf die einzelne Note zu schauen, sondern die Grundorientierung im Auge zu behalten und dies dem Schüler auch so zu kommunizieren. Eltern und Lehrer müssen sehen, ob das Kind insgesamt mit den Anforderungen zurechtkommt. Viele Schüler machen ja erst dann enorm viel aus sich selbst, wenn es für sie interessant wird. Kein Mensch lernt kontinuierlich mit allen Kraftreserven. Das zu erwarten ist unmenschlich.

Menschlichkeit bedeutet auch Gerechtigkeit. Gibt es denn die hundertprozent gerechte Note?
Es gibt überhaupt keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Es gibt höchstens eine Verfahrensgerechtigkeit. Anzunehmen, dass Noten gerecht sein können, ist eine Überforderung. Es gibt allenfalls das Bemühen, niemandem Unrecht zu tun. Mehr können auch Noten nicht leisten. Über die Einzelnote hinaus gilt: In der Summe bilden die Beurteilungen aller Lehrer, die aus unterschiedlichen Perspektiven einen diagnostischen Blick auf einen Schüler richten, insgesamt doch recht gut ab, wie leistungsfähig ein Schüler in der Schulform ist und wo er seine Fähigkeiten und Kompetenzen hat. (17.02.2011)

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