Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 70

Auf dem Weg zur Arbeit; Zeichnung eines Auschwitz-Häftlings
(Name unbekannt) Anfang der 1940er-Jahre
Quelle: ullstein bild, Michaelis
fälschlicherweise bekannt, 1943 sei die „Überstellung in das
Konz.L. Mauthausen“ erfolgt. Und: „Die Akten sind durch
Fremdeinwirkung vernichtet.“
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Vergessen
Das Schicksal der Frauen von Aichach bleibt lange Zeit nach
Ende des „Dritten Reiches“ vergessen, verzerrt und ver-
drängt. Denn in Westdeutschland blieb die Aufarbeitung
der NS-Justiz eine Farce, so der Historiker Nikolaus
Wachsmann: „Die Kontinuität im Justizwesen war mehr als
auffällig: Rund 80 Prozent der früheren Beamten wurden
wieder eingestellt.“
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Zwar wurden 1947 von den Amerika-
nern in einem Nürnberger Prozess einige hohe Beamte des
Reichsjustizministeriums zu Haftstrafen verurteilt, kein
einziger Richter oder Staatsanwalt der NS-Zeit aber wurde
von seinen Kollegen in Westdeutschland verurteilt. Die Jus-
tiz müsse ihr Versagen bei der Bewältigung ihrer eigenen
Vergangenheit eingestehen, wurde schließlich in den
1980er-Jahren vom Bundesjustizministerium konstatiert.
Kontinuität war auch bei den Gefängnisbeamten
angesagt. Als das „dunkelste Kapitel in der Geschichte der
westdeutschen Prozesse gegen NS-Gefängnisbeamte“
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be-
zeichnete Wachsmann das Verfahren im Jahre 1951 gegen
jene Männer, die für die „Vernichtung durch Arbeit“ von
Strafgefangenen verantwortlich waren. Die daran beteilig-
ten Beamten des Reichsjustizministeriums wurden freige-
13 Staatsarchiv, Staatsanwaltschaften, 18043.
14 Wachsmann (wie Anm. 7), S. 388.
15 Ebd. S. 392.
16 100 Jahre – JVA Aichach (wie Anm. 6), S. 84.
17 Lingens (wie Anm. 10), S. 219.
Die vergessenen Frauen von Aichach
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sprochen. Denn die Richter nahmen die Lügen der Ange-
klagten, nichts von der Mordaktion gewusst zu haben, an-
standslos hin und äußerten sogar Verständnis für die NS-
Politik, immerhin habe der deutsche Staat imKrieg in einem
Kampf um die nackte Existenz gestanden, die Überstellung
der Gefangenen in die KZ sei rechtmäßig gewesen.
Angesichts derartiger Urteile verwundert es wenig,
dass es örtlichen Gefängnisbeamten leichtfiel, ihre berufli-
che Laufbahn fortzusetzen. In Aichach zum Beispiel wur-
de nach der Befreiung durch die Amerikaner nahezu das ge-
samte Leitungspersonal entlassen, darunter Direktor von
Reitzenstein, der Gefängnisarzt Ludwig Schemmel, die Ge-
fängnislehrerin Anni Dimpfl und der evangelische Gefäng-
nisgeistliche Ernst Stark. Dieser war Ortsgruppenleiter der
NSDAP und huldigte Hitler in seinen Predigten als „Of-
fenbarung eines neuen Schöpferwillens“, der „selbstver-
ständlich nicht an den Mauern der Strafanstalt Halt ma-
chen“ konnte.
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Dies war aber keinHindernis, ihn 1949 wie-
der in den Staatsdienst zu übernehmen. Gleiches galt für die
Beteiligung von Gefängnisarzt Schemmel an Zwangssterili-
sationen. Wenige Jahre nach Ende des „Dritten Reiches“
war die Führungsriege von Aichach wieder fast komplett an
Bord, nur der Direktor war in den Ruhestand versetzt wor-
den.
Angesichts dieser Nachkriegssituation wurden die
Frauen von Aichach gleichsam in vielfacher Weise verges-
sen, zum Beispiel von der Forschung zur NS-Zeit, die sich
erst sehr spät dem Thema der Verfolgung von „Asozialen“
und „Gewohnheitsverbrechern“ annahm. Das hat vielleicht
damit zu tun, dass diese Gruppen in der Rangfolge der Kon-
zentrationslager ganz unten standen. So zeichneten die po-
litischen Gefangenen in ihren Berichten aus den Konzen-
trationslagern von ihnen ein wenig schmeichelhaftes Bild,
sie standen am Rande der „KZ-Gesellschaft“. „Bei den Kri-
minellen, die man nach Auschwitz brachte, herrschte wohl
die Absicht vor, sie zu vernichten. Ein großer Teil dieser
Menschen war so, dass man die Umwelt tatsächlich vor ih-
nen schützen musste: Gewohnheitsverbrecher, [...] Betrü-
gerinnen, Mörderinnen und anderes mehr“, diese Frauen
„starben mit wenigen Ausnahmen wie die Fliegen“,
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schrieb dazu Ella Lingens.
Eine Wahrnehmung, die sich freilich wenig mit der
Realität der Frauen von Aichach deckt. Weibliche Krimina-
lität war und ist vor allem Kleinkriminalität von Eigen-
tumsdelikten, es ging vor Gericht in der Regel um Taschen-
diebstahl, um den Diebstahl von Bettwäsche, um „Un-
1...,60,61,62,63,64,65,66,67,68,69 71,72
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